Internet Publikation für Allgemeine und Integrative Psychotherapie
    (ISSN 1430-6972)
    IP-GIPT DAS=03.10.2000 Internet-Erstausgabe, letzte Änderung: 14.03.15
    Impressum: Diplom-PsychologInnen Irmgard Rathsmann-Sponsel und Dr. phil. Rudolf Sponsel
    Stubenlohstr. 20     D-91052 Erlangen * Mail: sekretariat@sgipt.orgZitierung  &  Copyright

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    Willkommen in unserer Internet-Publikation für Allgemeine und Integrative Psychotherapie, Abteilung Psychotherapieforschungsabteilung der GIPT Erkl, hier zum Thema (noch nicht abschließend korrigierte Test- und Arbeits-Version nach Sponsel 1995)

    Die Grundlegenden Probleme und die Aporie jeglicher Einzelfall- und damit Therapieforschung

      Grundzüge einer idiographischen Wissenschaftstheorie

    von Rudolf Sponsel, Erlangen

    Überblick

            Einführung: Das idiographische Einzelfallparadigma
            GIPT'scher Wissenschaftsbegriff
            Begriff einer idiographischen Wissenschaftstheorie
            Begriff der nomothetischen Wissenschaft
            Sind erklären und verstehen Gegensätze?
            Die allgemeinen und vorläufig pragmatischen GIPT'sche Wissenschaftstheorie Regeln
            Skizze mit Beispielen einer idiographischen Wissenschaftstheorie
            Die Prinzipien einer idiographischen Einzelfall Methodologie (Überblicksgraphik)
            • Prinzip der Mehrfachsicherung.
            • Prinzip Maximale Wahrscheinlichkeit.
            • Prinzip Maximaler Erklärungswert.
            • Prinzip Logische Folgerung [aus Bewährtem] (Axiomatisierung)
            • Prinzip Widerspruchsfrei zu Feststehendem.
            • Prinzip Indirekter Beweis.
            • Prinzip Augenschein & Beobachtung.
            • Prinzip Herstellung, Modell, Experiment.
            • Prinzip Plausibilität nach Allgemeiner Erfahrung.
            • Prinzip Wissenschaftlicher Erfahrungssatz.
            • Prinzip Brückenkopferweiterung
            Die grundlegende Forschungsaporie der  Heilmittelprüfung
            Rechnerische Modellüberlegung: 150 Billionen Dyadenmöglichkeiten
            Kritik der  Methoden, Paradigmen und Designs der  traditionellen  Psychotherapieforschung
            Das Problem der unspezifischen Effekte
                (1)  Es gibt gar keine spezifischen Therapieeffekte
                (2)  Die Psychotherapieforschung ist nicht angemessen entwickelt
                       14 Erklärungsmoeglichkeiten und Fehlerquellen
                (3) Allgemeine, spezielle Faktoren und Fehler wirken zusammen
            Keine Kontrolle von Symptomverschiebungen
            Keine Kontrolle äußerer Faktoren
            Keine Kontrolle der Selbstheilungskräfte
            Keine Kontrolle  therapie-förderlicher Faktoren in PatientIn, PsychotherapeutIn,
                       P-P-Beziehung und im Psychotherapie-Prozeß
            Zusammenfassung


    Einführung: Das idiographische Einzelfallparadigma

        Die Wissenschaft vom Einzelfall führt an den Universitäten, dort, wo die Wahrheit eigentlich ihre Heimat haben sollte, ein trauriges Dasein. Man kann ohne Übertreibung sagen, daß die große Mehrzahl der. sog. "WissenschaftlerInnen", wir nennen sie manchmal etwas verächtlich "SzientistInnen", die Grundprobleme überhaupt nicht begriffen haben. Wie sollten sie dann aber zur Lösung beitragen können, wenn sie gar nichts verstanden haben und nichts verstehen, möglicherweise sogar nicht einmal verstehen wollen?

        Die WissenschaftlerInnen geben - meist in Anlehnung an die Naturwissenschaften vor - vor, sie wollen Gesetze und Regelhaftigkeiten erkennen. Bereits an dieser Stelle beginnt das Problem, weil der Begriff der Wissenschaft schon unzulässig eingeschränkt wird.
     
       
      Wissenschaft bedeutet Wissen lehr-, lern- und evaluierbar schaffen 1)

      In diesem Sinne sind alle Menschen Wissenschaftler, die ein Wissen haben, das sie so lehren, dass andere es lernen und kontrollieren können. Hierzu zählt jedes Wissen, auch das Berufswissen, das Handwerk, z. B. auch der Gärtner, der Bauer, die Hausfrau. Wissenschaftliches Wissen in diesem Sinne entsteht nicht unbedingt an Universitäten, dort wird sogar meist nur ein sehr kleiner Teil gepflegt. UniversitätswissenschaftlerInnen sind oftmals in konkreten, praktischen Problemlösungen auch völlig überfordert, weil sie weder Einzelfallkonzepte entwickelt oder keine Erfahrung in der Anwendung haben.

      Wissenschaftsprinzip der GIPT
      Die Beschränkung auf Gesetze oder Regelhaften erkennen wird von uns als unzulässige Einschränkung abgelehnt. 
       

        Worum geht es z. B. in der Praxis der ÄrztIn, der PsychotherapeutIn, des Steuerberaters, des Rechtsanwaltes, des Richters, der medizinischen BademeisterIn, der BäuerIn auf genau ihrem Land, der KFZ-MechanikerIn mit genau diesem Auto in ihrer ganz konkreten Arbeit? Nun geht es in aller Regel in der Praxis um einen ganz konkreten individuellen Einzelfall, der, genau genug betrachtet, als idiographisch einzigartig und einmalig zu betrachten ist. Jedes Individuum gehört bei genauer Betrachtung zu einer unbeschreiblich großen astronomischen Zahl, ja wir können ruhig sagen, einer  potentiell unendlichen Vielfalt von Möglichkeiten, wovon  in seinem konkreten und individuellen Leben, in seiner spezifischen Lebens- und aktuellen Situation, eine realisiert ist.
        Die Frage ist auch gar nicht, ob die idiographische eine gültige und wissenschaftliche Methode ist, und ob man sie deshalb anwenden dürfe, solle oder nicht. Die Realität hat diese Frage längst entschieden, indem sie so ist, wie sie ist.  Und sie ist eben so, daß vor uns, in unserer Arbeit, in unserer Praxis ein individueller Einzelfall auftaucht. Was hat uns nun die Wissenschaft für eben diesen Einzelfall anzubieten? Was sagt uns die Wissenschaft, wie wir die einzigartigen und einmaligen individuellen Einzelfälle, mit denen wir es in der Praxis immer zu tun haben, behandeln müssen oder was wir auf keinen Fall tun dürfen?
        Wenn man wissen will, wie die idiographische Wissenschaft, wir nennen sie einfach Praxeologie, aussieht, dann darf man nicht in die Universitäten gehen [Ausnahme Universitätskliniken: die Medizin hat eine jahrtausendealte Einzelfalltradition], sondern man muß die Stätten der Praxis aufsuchen und praktischen KönnerInnen bei ihrer Arbeit zusehen.

    Grundzüge einer idiographische Wissenschaftstheorie

       Unter idiographischer Wissenschaftstheorie (SPECK 1980, 2. Bd. S. 292 - 294) verstehen wir das Regelwerk zur Erforschung des Individuellen, Einmaligen, der singulären Ereignisse und Sachverhalte wie sie bevorzugt in folgenden Wissenschaftsbereichen von Bedeutung sind: Praktische Medizin, Psychopathologie, Psychotherapie und psychologische Beratung von Individuen, Anamnestik, Biographie- und Lebenslaufforschung, Differentielle Psychologie, Jurisprudenz als Tatsachen-, Tatbestands- und Wahrheitsforschung, Kriminalistik, Forensische Psychologie, Geschichtswissenschaft, Ökonomie (z. B. in welcher Phase des Konjunkturzyklus befindet sich die Gesellschaft G.?) und Sozialwissenschaften. Aber auch in den Naturwissenschaften gibt es singuläre Fragestellungen, z. B. wie diese, unsere Erde, sich entwickelt hat, Entwicklung ihrer Kontinente, was ein bestimmtes ökologisches System in einer ganz bestimmten Umgebung braucht ("Waldsterben, Ozonloch"), die Wetter-, Klima- und Erdbebenvorhersage für singuläre Zeiten und geographische Gebiete, Exploration von Bodenschätzen (z. B. ist hier Öl zu finden?) etc.

    Nomothetische Wissenschaft sucht nach allgemeinen Gesetzen, idiographische Wissenschaft versucht, besondere, individuelle, einzelne Ereignisse und Sachverhalte zu erklären und zu verstehen oder vorherzusagen. Der Konstruktion eines Gegensatzes zwischen "Verstehen" versus "Erklären" erteilen wir eine Absage. "Verstehen" und "Erklären" [FN01] meinen Verschiedenes. "Verstehen" ist hauptsächlich ein Kommunikationsbegriff und verlangt wenigstens einen Sender (mag auch ein Ereignis oder Sachverhalt sein) und einen Empfänger. "Erklären" ist ein wissenschaftstheoretischer, methodologischer Begriff vom Typ B weil A oder vom Typ Wenn A, dann B, nun B, vermutlich weil A. [FN02] Natürlich geht es in der idiographischen Wissenschaftstheorie und Praxis um Erklären, wenn wir Syndromgenese und Ätiologie betreiben, um was denn sonst. Und es geht natürlich um Prognose, wenn wir einen Therapieplan erstellen, von dem wir natürlich annehmen, da  die dort zusammengestellten Methoden und Maßnahmen zu einer Linderung, Besserung und idealiter Heilung führen. Wir idiographischen WissenschaftstheoretikerInnen sind gar nicht gegen die NomothetikerInnen: wir sind nur dagegen, da  sich die NomethetikerInnen über uns zu erheben versuchen und zugleich unsere Belange nicht nur nicht angemessen berücksichtigen, sondern sogar noch verleugnen.
        Der Idiographie-Begriff wird gewöhnlich dem Nomothethie-Begriff gegenübergestellt, was zwar historisch richtig, aber faktisch falsch ist. Idiographische und nomothetische Fragestellungen repräsentieren unterschiedliche Ziele und daher auch Perspektiven. Idiographie und Nomothetik sind kein Gegensatz, sondern anders, verschieden; sie schließen sich nicht aus, sondern ergänzen sich. Die abwertende Haltung mancher NomothetikerInnen gegenüber den IdiographInnen ist keineswegs gerechtfertigt. Das Unvermögen vieler NomothetikerInnen, die idiographische Problematik zu begreifen, zeigt sich auch in den nicht vorhandenen Veröffentlichungen. Selbst W. STEGMÜLLER läßt in seinem großem wissenschaftstheoretischen Werk die Grundfrage des singulären Sachverhalts weitgehend außer Acht und reduziert die Probleme auf das für uns doch eher nebensächliche Gleis, wie "verstehen" auf "erklären" zurückgeführt werden und in das HO-Schema integriert werden kann (Bd. I, Kap. VI, Berlin 1969).
        Im Gegensatz zur nomothetischen Wissenschaftstheorie gibt es aber - auf den ersten Blick - keine solche idiographische, jedenfalls keine explizit als solche ausgewiesene. Praktisch ist die idiographische Wissenschaftstheorie aber als Beweistheorie und Tatsachenforschungs-Methodologie in der Jurisprudenz hoch entwickelt, aber noch weitgehend ohne systematisches, methodologisches, theoretisches Fundament; erste Ansätze im Strafrecht (SCHULZ 1992 > Sponsel 1995, Reader). So ist auch "Die Ermittlung des Sachverhalts im Prozeß" (DÖHRING 1964, S. 3 ff > Sponsel 1995, Reader), eine immer noch wichtige Arbeit zur Tatsachenforschung singulärer Ereignisse, wenn auch immer noch  - leider - kaum Gegenstand der juristischen Ausbildung [FN03].

      HERZOG (1980, S. 266) [FN04] beklagt, daß es keine ausgearbeitete psychologische Wissenschaftstheorie gibt. Und noch viel weniger gibt es natürlich eine systematische idiographische Wissenschaftstheorie - Ansätze: SCHNEEWIND (1977, Hg.); ASCHENBACH (1984); GROEBEN (1986). PERREZ (1972), dem es um die Rechtfertigung der Psychoanalyse als wissenschaftliches Verfahren geht, berührt das Idiographieproblem ebenso wenig wie auch den Klassiker FEIGL, H., SCRIVEN, M. (1956: "Minnesota Studies in the Philosophy of Science. Vol. 1, The Foundations of Science and the Concepts of Psychology and Psychoanalysis"). Das mag verwundern, weil doch einige wichtige Psychologen W. STERN (1911, S. 318 ff), G. W. ALLPORT (1959, S. 4 - 25), A. A. MASLOW (1977, besonders S. 26 - 31 > Reader), G. JÜTTEMANN, H. THOMAE (1987, Hg.) auf die Bedeutung der idiographischen Methodik aufmerksam machten. Wie dem auch sei: es kann nicht den geringsten Zweifel geben, daß für die PraktikerIn in erster Linie idiographische Probleme von Interesse sind; und hier hilft in aller Regel die Wissenschaftstheorie nicht; sie verwirrt, vernebelt mit immer neuen endlosen Problemdebatten, statt einmal Nägel mit Köpfen vorzulegen [FN05].
      Die idiographische Perspektive hat in der Regel ein "Einzelfallproblem" zu lösen. Das ist regelmäßig in der psychologischen Beratungs- und Therapiesituation der Fall. Jeder Therapieplan hat für einen ganz konkreten individuellen Einzelfall Hypothesen zur Problemgenese und Problembeseitigung zu entwickeln. Wie kommt es z. B., daß bei Y. im März ZZZZ ein Angstsyndrom ausgebrochen ist und wie kann man es vor allem zum Verschwinden bringen?
      In der psychologischen Einzelfallforschung ist denn auch das Idiographieproblem sowohl bekannt als auch anerkannt (HUBER, H. P. 1973.; PETERMANN, F., HEHL, F.-J. (Hg.) 1979; PETERMANN, F. 1982. PLAUM, E. 1992 > Reader;  PLESSEN 1982), aber die meisten der erwähnten Autoren - Ausnahme Plaum - gehen allerdings methodologisch traditionelle und unserem Gegenstand mehr oder weniger nicht angemessene, sondern szientistische Wege. Sie verwechseln wissenschaftliche mit praxeologischer Sicherheit und haben kein praxeologisches Konzept. Daher erklären wir sie auch für uns nicht zuständig. Sie haben uns nichts zu sagen, weil sie von unseren Problemen nichts verstehen.

    Pragmatische Zwischen-Ideale. Wir können nicht warten, bis die WissenschaftstheoretikerInnen eine einwandfreie normierte begriffliche Basis für die Psychologie und Psychologische Psychotherapie geschaffen haben. Das Programm der "Erlanger-Schule" [FN06]  ist ohnehin sehr theoretisch- idealnormorientiert und für die Praxis noch nicht anwendbar entwickelt. STEGMÜLLER ist völlig ausgeufert und für die Praxis auch nicht anwendbar. Statt Probleme zu lösen, werden ständig neue kreiert, entwickelt, erfunden. Die ganze Wissenschaftstheorie krankt m. E. am Theoretisieren. Diese Leute arbeiten nicht mit richtigen Menschen in einer richtigen Lebenssituation an einem richtigen Problem. Und daher erklären wir sie auch für uns als SupervisorInnen für nicht zuständig. Wir PraktikerInnen müssen eine eigene Wissenschaftstheorie entwickeln, eine, die für unsere Arbeitswelt und Lebensrealität taugt. Einen interessanten praktisch grundsätzlich anwendbaren Ansatz zeigt WESTMEYER (1987) auf ( > Reader, Sponsel 1995). Zwischen Wissenschaft und Praxis brauchen wir eine neue Schnittstelle, ich nenne sie Praxeologische Wissenschaft, die Wissenschaft so aufbereitet, daß die Praxis etwas damit anfangen kann und die Praxis so aufbereitet, daß die Wissenschaft etwas damit anfangen kann. Das sollten eigentlich die klinischen Lehrstühle leisten. Sieht man sich hier jedoch genauer um, stellt man mit Entsetzen fest, daß die medizinischen Psychologie-Lehrstühle alle mit Psychoanalytikern - die von der Macht sehr viel und von Wissenschaft noch nie sehr viel verstanden haben - besetzt sind und die klinischen Lehrstühle bei  den PsychologInnen fast alle fest in den Händen der Therapieschulen sind, meist VerhaltenstherapeutInnen, die selbst nicht innovativ, interessiert oder auch nur mutig genug sind, die allgemeine und integrative Psychotherapie vorwärts zu treiben - Ausnahme: GRAWE und inzwischen FIEDLER; sie haben sich eingerichtet und drohen sich mit der Medizin ebenso zu arrangieren wie die Psychoanalyse. Die "Arrangiermittel" könnten hier wie dort mit Macht und Geld [FN07] verwandt sein.

    Die allgemein-pragmatischen und vorläufigen GIPT'schen Wissenschaftstheorie Regeln

    (1) Konstruktive-Liberalitäts-Regel
    Da die Wissenschaftstheorie nicht fähig war, allgemein anerkannte Normen und Regeln für die Praxis zu entwickeln und evaluieren, möge jeder vorgehen, wie er will, wenn er nur Schritt für Schritt und möglichst urdaten-dokumentiert erklärt, was er wozu tut und wie die Gründe hierfür aussehen.

    (2) Sprach- und Konstruktionsnormierungen
    Die Begriffe sollten wenigstens klar definiert und idealiter auch eine  Konstruktionsnormierung ausgearbeitet oder wenigstens skizziert sein.

    (3) Reproduzierbarkeit der Ergebnisse
    Untersuchungen, die nicht prinzipiell-tendenziell replizierbar sind, können nicht den Status von Wissenschaftlichkeit beanspruchen.

    (4) Theorie- und hypothesengeleitete Empirie
    Man möge seine empirischen Untersuchungen in den Rahmen einer Theorie stellen, seine Hypothesen klar vor der Untersuchung formulieren und nicht "blind" in der Gegend herumkorrelieren.

    (5) Wissenschaftsethik in den Verfahren
    Es sollen grundsätzlich keine Verfahren angewendet werden, deren Voraussetzungen nicht erfüllt sind, z. B. Zufallsauswahl, Verteilungsannahmen, Paramteräquivalenz, Ergodizität (Parameterkonstanz), Skalenniveau.

    (6) Einfache, direkt interpretierbare Maße & Kennwerte
    Von den Maßen sollten solche bevorzugt werden, die einfach und direkt interpretierbar sind.

    Skizze mit Beispielen einer idiographischen Wissenschaftstheorie

      Zentralparadigma idiographischer Wissenschaftstheorie und Praxis ist stets die Frage, ob ein singuläres Ereignis mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit bzw. Sicherheit stattgefunden hat (Perspektive der Erklärung, Anwendung: Syndromgenese) oder stattfinden wird (Perspektive der Prognose: Anwendung z. B.: vorzeitige Entlassung aus dem Strafvollzug oder einer forensischen Psychiatrieeinheit). Beispiele: (1) PatientIn erklärt, daß  sie dann und dann Angstzustände bekam, als sie an der Kasse im Supermarkt anstand; (2) PatientIn klagt über Einschlafstörungen; (3) PatientIn klagt über Konzentrationsstörungen; (4) PatientIn klagt über Prüfungsangst; (5) PatientIn klagt über Zwänge; (6) PatientIn lernt die Anwendung eines psychologischen Heilmittels, wendet es an und klagt, keinen Erfolg damit zu haben; (7) PatientIn führt bei TherapeutIn eine Psychotherapie durch und wird nach zwei Jahren nachuntersucht; (8) TherapeutIn gewinnt den Eindruck, daß es der PatientIn deutlich besser geht; (9) PatientIn soll FOCUSING lernen und der TherapeutIn will sicherstellen, daß er das Verfahren beherrscht; (10) PatientIn bekommt als Hausaufgabe, zwei Mal FOCUSING durchzuführen und TherapeutIn möchte wissen, wie gut die Aufgabe bewältigt und durchgeführt wurde.

      Man erkennt unschwer, da  die meisten Fragen für die meisten PsychotherapeutInnen kein Problem repräsentieren. Und die SystemikerInnen interessieren sich ganz bewußt nicht für "die Wahrheit", die es für sie meist sowieso gar nicht gibt. Ihnen geht es darum, ein Problem zu lösen. Die Tatsachenfeststellung ist hierbei nebensächlich oder gar störend. Die Welt der Menschen ist eine subjektive Konstruktion. Für (6), (9) und (10) wird sich TherapeutIn näher interessieren. (8) wird TherapeutIn willkommen heißen und meist wohl nicht näher absichern. (1) bis (5) wird TherapeutIn näher explorieren, um es besser zu verstehen und um einen Therapieplan entwikkeln zu können, aber es gibt bei (1) bis (5) gewöhnlich nicht das Problem der Tatsachenfeststellung. Unreflektiert wird die TherapeutIn der PatientIn meist glauben und hiervon oft wohl zurecht. Sind PatientInnen psychodynamisch vorbelastet, meinen sie oft, man müsse immer die Ursachen von Störungen wissen, bevor man helfen könne. Glücklicherweise stimmt diese Lehre nicht. Es gibt ganze Klassen von Störungen und Problemen, wo man helfen kann, ohne die Ursache zu kennen. Solchen PatientInnen kann man einfach erklären, wenn sie daheim eine eingeschlagene Fensterscheibe vorfinden, so nutzt die Klärung der Ursache für die Problemlösung nichts, aber ein Glaser sehr viel. Zur komplizierten Ursachenproblematik siehe bitte Sponsel 1995 Kap. 2 (S. 95 f "Sprachliche Kausalitätswirren" und besonders "Checkliste Kausalitätsfeld") und Kap. 5.6.2.6, S. 317 - 319).

      Wir wollen nun aber einmal so tun, als ob es uns darum ginge, die Tatsächlichkeit eines singulären Ereignisses - wie es forensische AussagepsychologInnen ständig tun müssen - zu ermitteln und zu begründen. Dann stellt sich die Frage: auf welche Prinzipien, Regeln, Methoden könnten wir zurückgreifen?

    Abb. IWT


    Quelle Sponsel Handbuch (1995), S. 337.

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    Prinzip der Mehrfachsicherung. In meinem ersten Praktikum im Psychologischen Labor in der Universitätsnervenklinik Erlangen (Frau und Herr Dr. HARTUNG, die Rorschach-Spezialisten in Bayern) galt der Spruch: Ein Test ist kein Test. Und in der Forensischen Psychologie habe ich gelernt, da  eine wichtige Schlußfolgerung mehrfach abgesichert sein sollte. Das lernen auch JournalistInnen in ihrer Ausbildung: Informationen durch mehrere, am besten von einander unabhängige Quellen ("Zeugen") abzusichern. Dieses wichtige Validitäts-Prinzip nennen wir daher das Prinzip der Mehrfachsicherung. In manchen psychologischen Testkreisen scheint es sich noch immer nicht herumgesprochen zu haben, daß die Validitätsprüfung in jedem Einzelfall gesondert und nicht formal zu leisten ist [FN08].

    Prinzip Maximale Wahrscheinlichkeit. Wenn es im Zimmer zieht, ist die Wahrscheinlichkeit, da  ein Fenster oder eine Tür auf ist, größer, als daß eine Zimmerwand verschwunden oder ein Zugluftgenerator heimlich installiert wurde. Sind die Wahrscheinlichkeiten für ein singuläres Ereignis gegenüber alternativ-hypothetischen relativ groß, läßt sich hieraus das Prinzip Maximaler Wahrscheinlichkeit, eine Art praktische Maximum Likelihood, gewinnen.

    Prinzip Maximaler Erklärungswert. Dieses Prinzip wählt denjenigen Sachverhalt als den wahrscheinlichsten aus, der die meisten anderen Sachverhalte zu erklären imstande ist. Sei das diagnostische Problem Neurose oder Psychose. Und seien die Symptome "Verwirrung", "Desorientierung", "Angst", "seltsame Gebärden", "unzugänglich", so würde eine Psychose die Symptome eher "erklären" als eine Neurose. Dieses Prinzip dürfte beim Problem des Rückschlusses von Symptomen auf eine bestimmte Diagnose sehr oft zur Anwendung gelangen.

    Prinzip Logische Folgerung [aus Bewährtem] (Axiomatisierung)  Läßt sich ein Sachverhalt aus einer Reihe anderer, empirisch gesicherter Sachverhalte, also von Tatsachen ableiten oder schlußfolgern, so kommt diesem abgeleiteten Sachverhalt ein relativ hoher Beweiswert zu. Beispiel: Fraglich sei, wie ein Lebenszufriedenheitsmittelwert von LZS = 67 % zu beurteilen ist. Als empirisch gesichert gelten folgende Sachverhalte: S1: ProbandIn ist nicht maniform; S2: ProbandIn ist nicht übertrieben zwanghaft. S3: ProbandIn hat eine integrative Therapie von 28 Sitzungen wegen einer sog. "Herzneurose" durchgeführt. Es gelte folgende diagnostische Schlußregel DSR: Gesunde, relativ zufriedene und symptomfreie Menschen produzieren in der Regel Lebenszufriedenheitsmittelwerte zwischen 60 und 80%. Solche Mittelwerte sprechen gegen eine intrapsychische Symptomverschiebung. Daraus können wir ableiten, daß ProbandIn sehr wahrscheinlich symptomfrei ist und die Integrative Psychologische Psychotherapie als voller Erfolg bezeichnet werden kann.

    Prinzip Widerspruchsfrei zu Feststehendem. Hier geht es darum, eine Vermutung so lange aufrecht zu erhalten, so lange nichts gegen sie spricht. Das Nicht-Dagegen-Sprechen wird als schwache Stützung verwendet. Steht ein zu beurteilender Sachverhalt Sb in Relation zu bestehenden Sachverhalten S1, S2, ..., Si, ..., Sn und nicht in Widerspruch mit diesen, so können diese Sachverhalte als schwaches Beweisindiz dienen. Der Sachverhalt Sb wird zwar von den anderen nicht gestützt, aber er bekommt auch kein "Widerspruchssperrfeuer". Beispiel: Eine PatientIn ist an Sb = Selbstsicherheit interessiert. S1 = PatientIn spricht Selbstsicherheit nicht als Problem an; S2 = PatientIn vermittelt nicht den Eindruck, als sei sie besonders selbstsicher, S3 = PatientIn wirkt zurückhaltend. Alle drei Sachverhalte S1, S2, S3 sind mit Sb verträglich, sprechen nicht dagegen; sie liefern damit eine schwache Stützung der Vermutung: hier könnte ein
    Selbstsicherheitsproblem vorliegen.

    Prinzip Indirekter Beweis. Das ist ein bekanntes Beweisverfahren aus der (nicht-konstruktivistischen) Mathematik und Logik. Man bilde die Kontradiktion zu einem zu beurteilenden Sachverhalt Sb, also -Sb. Man zeige nun, da  aus den wahren Sätzen S1, S2, ..., Si, ..., Sn und -Sb ein Widerspruch folgt, dann folgert man zurück, daß -Sb nicht wahr sein kann, also falsch sein muß. Gilt nun der Satz vom ausgeschlossenen Dritten - der in der konstruktiven Logik nicht gilt -, so folgt, daß Sb wahr sein muß, weil -Sb falsch ist. Beispiel: P zeige die Symptome S1 = "versteinerter Gesichtsausdruck", S2 = "eingesunkene Haltung", S3 = "nicht ansprechbarer Eindruck", alles in allem Verdacht auf Depression früher sogenannten endogenen Typs. Diskutiert sei die Frage, ob Motivation und Interesse intakt ist. Sei Sb = "Interesselos", dann wäre -Sb = "NICHT(interesselos)" = "Interessiert". Angenommen, man kann zeigen, da  [(S1, S2, S3) UND (-Sb)] empirisch unverträglich ist, dann folgt [(S1, S2, S3) UND (Sb)]. Man kann nach diesem Schema von bestimmten Symptomen oder Syndromen zu anderen übergehen, auf diese schließen.

    Prinzip Augenschein & Beobachtung. Ist strittig, ob ein bestimmtes Verhaltensmuster an den Tag gelegt wird oder nicht, so kann hierüber eine Verhaltensbeobachtung schnell Aufschluß geben. Möglicherweise mu  sie aber verdeckt erfolgen, weil das Wissen um die Beobachtung und um das Beobachtungsmotiv das Verhalten beeinflussen kann. Bei vielen forensischen Fragestellungen empfiehlt sich z. B. eine Inaugenscheinnahme, etwa des Tatortes. Im pychotherapeutischen Bereich kann es sehr nützlich sein, PartnerInnen oder Angehörige persönlich kennenzulernen, um einen Eindruck von der Beziehung zu gewinnen.

    Prinzip Herstellung, Modell, Experiment. Kann ein strittiger Sachverhalt hergestellt werden, ist das ein Beweisindiz für seine Existenzmöglichkeit. Das ist z. B. sehr wichtig, bei Augenzeugenexperimenten: konnte jemand aus einer gewissen Entfernung bei gewissen Beleuchtungsverhältnissen eine Person identifizieren [FN09]? Das Prinzip spielt in der Kriminalistik aber auch in der wissenschaftlichen Forschung eine bedeutende Rolle. Ein Streßsyndrom hat zwei ätiologische Hauptquellen: (1) Stressoren werden gar nicht apperzipiert (bewußt wahrgenommen) und können infolgedessen auch gar nicht berücksichtigt und beachtet werden; (2) Stressoren werden zwar apperzipiert, aber nicht berücksichtigt und beachtet. Eine Entscheidung kann ein psychotherapeutisches Experiment liefern, indem Streß hergestellt wird und sodann eine Exploration stattfindet, ob die Stressoren bemerkt wurden. Wofür ein Alkoholmi brauch ätiologisch stehen kann, kann man möglicherweise erst dann vernünftig beurteilen, wenn eine zeitlang Abstinenz herrscht. Symptome, die dann auftreten, könnten eine Erklärungshypothese für die "heilende Wirkung" des Alkoholmi brauchs liefern. Hergestellt wird also Abstinenz. Das wäre zugleich ein Beweis dafür, daß es ohne Alkohol - zumindest kurz- bis mittelfristig - auch geht. Ob jemand angstfrei geworden ist, kann letztlich nur ein Experiment beweisen: jemand muß sich der vormals angstbesetzten Situation stellen, sie ohne Symptomproduktion aushalten und bewältigen, dann kann zumindest auf der Symptom-Ebene von einem klaren Therapieerfolg gesprochen werden.

    Prinzip Plausibilität nach Allgemeiner Erfahrung. Ruft jemand an und möchte eine Psychotherapie machen, ist anzunehmen, daß es dem Betreffenden nicht besonders gut geht und da  KandidatIn Probleme hat, die sie selbst meint, nicht so wirkungsvoll bekämpfen zu können wie mit einem Fachkundigen. Theoretisch könnte es natürlich auch jemand sein, der sich in seiner Bezugsgruppe wichtig machen möchte, nur neugierig ist, was PsychotherapeutInnen für Menschen sind oder einen Test macht, ob PsychotherapeutIn merkt, da  es sich nur um einen Test handelt; es könnte auch eine JournalistIn sein, die darüber schreiben möchte, wie Psychotherapie abläuft oder eine AgentIn, die testen möchte, wie leicht man PsychotherapeutInnen verführen kann. Am plausibelsten ist wohl die Annahme, daß es sich um eine echte PatientIn handelt.

    Prinzip Wissenschaftlicher Erfahrungssatz. Zerreißt es einen Wasserkanister im Auto, so hat es wahrscheinlich Nachtfrost gegeben und das frierende, zu Eis werdende Wasser hat sich ausgedehnt. Findet man einen solchen Kanister in einer verlassenen Wohnung, bieten sich zwei Möglichkeiten an: a) er ist dorthin verbracht worden oder b) die Wohnung war nicht beheizt und streckenweise relativ frostig, wonach vermutet werden darf, da  die Wohnung - zeitweise - nicht bewohnt wurde.

    Prinzip Brückenkopferweiterung [FN10]. Hier bildet man eine solide Basis B1 sicherer Aussagen. Aus den noch nicht sicheren Aussagen A1, A2, ..., Ai, ..., An,  wähle man diejenige Ab, die sich am besten begründen läßt, womit die neue Basis B2 = (B1 UND Ab) erzeugt wurde. Nun suche man wieder diejenige Ab, die sich am besten begründen läßt, womit die neue Basis B3 = (B2 UND Ab) erzeugt wird usw. usf. Man geht also sukzessive, Schritt für Schritt vor und erweitert so ständig den Bereich, die Basis der relativ sicheren Aussagen. Beispiel: Zu erklären sei ein phobischer Ausbruch. Wir haben an sicheren Aussagen: (B1) ProbandIn hat sich vor einigen Jahren selbständig gemacht. (B2) ProbandIn hat sehr viel gearbeitet. (B3) ProbandIn hat in den letzten Jahren öfter und länger anhaltend fiebrige Erkrankungen bekommen. (B4) ProbandIn lebte in latenter Angst und Sorge, ob sich der geschäftliche Erfolg dauerhaft einstellt. (A1) ProbandIn hat sich chronisch überfordert. (A2) Das Abwehrsystem wurde zusehends schwächer. (A3) Als Kulmination der chronischen Überforderung bei zunehmender Abwehrschwäche kam es zum phobischen Ausbruch. (A2) läßt sich aus (B3) mutmaßen. Und (A1) läßt sich aus (B1, B2, B4) gewinnen. Aus (B1, B2, B3, B4, A1, A2) kann (A3) gemutmaßt werden (Sponsel 1995, > Kap. 7 Fälle Herz_01).

    So viel zu den Prinzipien. Insgesamt wollen wir festhalten: (1) Eine idiographische Wissenschaftstheorie ist praktisch durch die Tatsachenfeststellungs- Methoden vor Gericht entwickelt. (2) Viele Probleme sind noch nicht angemessen gelöst. Insbesondere (3) Erklärung (Ätiologie) und Prognose (Therapieerfolg) in der Heilkunde repräsentieren komplizierte und komplexe Probleme, wie im folgenden noch deutlicher werden wird.

    Die grundlegende Forschungsaporie der  Heilmittelprüfung

      Die grundlegende Forschungs-Aporie besteht in dem unlösbaren Dilemma der Übertragbarkeit der Ergebnisse. Genau betrachtet gibt es keine zwei gleichen Psychotherapien und keine zwei gleichen Heilmittelsituationen. Die Fälle unterscheiden sich immer, es ist nur eine Frage der genauen Betrachtung. Das ist ein wesentlicher Kritikpunkt KIESLERs (In: PETERMANN 1977): der Uniformitätsmythos - allerdings nicht nur in der Psychotherapieforschung. Das grundlegende methodologische Problem besteht in Kriterien, die besagen, unter welchen Bedingungen eine Übertragung von einem Evaluationsergebnis auf eine Behandlung zulässig sein soll. Das Finden von solchen bislang fehlenden Kriterien, würde eine ziemlich umfassende Klassifikationstheorie einerseits und eine Ähnlichkeitstaxonomie von Heilmitteln, Situationen, Menschen, TherapeutInnen, Therapie-Settings andererseits voraussetzen. Das ist aber nicht nur ein Problem der Psychotherapieforschung, sondern jeder Wirkforschung vom Typ Kontext K, Objekt O, Mittel M, Wirkung W. Der Kontext K und das Objekt O unterscheiden sich immer, selbst bei eineiigen Zwillingen (von denen ich einige untersucht habe).Das Problem wird sofort klar, wenn man die Vielzahl der wirksamen Faktoren mit ein bißchen Rechnen untersucht:

    Exkurs Rechnerische Modellüberlegung: 150 Billionen Dyadenmöglichkeiten   [FN11]

      Gehen wir aus von 100 relevanten Methoden (M=100), die jeweils dreifach technisch (T=3) variiert werden können; von jeweils 10 relevanten Persönlichkeitsstrukturen bei PatientIn und PsychotherapeutIn (P = 10 * 10 = 100); von nur 100 verschiedenen Störungsbildern (S=100); von nur 100 unterschiedlich relevanten sozialen Kontexten (K=100), in denen die Therapie stattfindet; von nur 10 relevanten fördernden oder hemmenden Einstellungs- und Beziehungsfaktoren zur Psychotherapie (E=10); und von nur 10 relevanten äußeren Ereignissen, die die Psychotherapie beeinflussen (persönliches Umfeld & Angehörige, Beruf, Freizeit; Ä=10); und nehmen wir an, daß es nur 50 Lenkungsmittel (L=50) gibt, die in nur 100 Zeitintervallen (Z=100) zum Einsatz kommen können; so ergeben sich an unterschiedlichen Möglichkeiten für jede Psychotherapiedyade:

       PT-Dyade =  M * T * P  *  S  *  K  *  E *  Ä  *  L  *  Z
               =  100*3 *100 * 100 * 100 * 10 * 10  *  50 * 100
               =  1,5 * 1014
               =  150.000.000.000.000

      Eine Psychotherapie-Dyade (PatientIn, PsychotherapeutIn, Psychotherapie- Konfiguration) enthält also nach dieser Modellüberlegung rund 150 Billionen Möglichkeiten an Konfigurationen. Faßt man mehrere PatientInnen in einer Evaluationsgruppe zusammen, so ergeben sich für diese Gruppe, wenn sie N PatientInnen enthält 150.000.000.000.000  Möglichkeiten. Vergleicht man mehrere Gruppen, muß dieser Wert wieder entsprechend multipliziert werden. Diese Überlegungen mögen zeigen, daß wir mit den traditionellen und "klassischen" Forschungsmethoden nicht weiterkommen, das führt in einen praktisch unendlichen Regress mit zunehmend verwässerteren und nichtssagenderen Ergebnissen. Wir brauchen völlig neue Ideen, wie wir mit solch hochkomplexen Phänomenen umgehen können. Für die Gruppen- Evaluation weiß  ich keine Lösung, aber vielleicht ist DÖRNERs (> Reader, Sponsel 1995) Ansatz, mit hochkomplexen Systemen und Unsicherheit umzugehen der richtige Weg - lineare Variable für Variable Design führt wahrscheinlich zu nichts, außer daß die traditionelle SozialwissenschaftlerIn nicht arbeitslos wird. Wir brauchen völlig neue Forschungsparadigmata, neue Methoden und wenn Mathematik, dann eine, die für die Psychologie entwickelt und nicht eine, unter die die Psychologie gepreßt wurde. Die Psychologie ist keine kleine Ausgabe der Physik, sie ist etwas ganz anderes und eigenes. Es gibt wahrscheinlich nur einen einzigen Ausweg und nur eine einzige ziemlich sichere Methode, das ist die Einzelfall- Evaluation während, am Ende und nach der Therapie (Katamnese). Alle anderen Methoden sind immer mit vielen und unkontrollierbaren methodischen Unsicherheiten und Fragwürdigkeiten behaftet. Die bislang erfolgten Wirksamkeitsprüfungen können nach diesen Erkenntnissen nicht überzeugen. Die traditionelle Psychotherapieforschung [FN12]  muß grundsätzlich überdacht werden.
      In der GIPT werden wir daher den Weg bevorzugen, während des Therapieprozesses eine fortlaufende Evaluation durch Therapiedokumentation durchzuführen wie es in 5.6.2.10 (Durchführung der GIPT) dargelegt wird (> 6.4). Einzelfall-Evaluation ist der beste, sicherste und praxisnächste Weg. Sie ist allen anderen Methoden überlegen, besonders dann, wenn kriterienvalide Heilmittel zur Anwendung gelangen.
     

    Kritik der Methoden, Paradigmen und Designs der traditionellen Psychotherapieforschung

    Das Problem der unspezifischen Effekte

      Wenn die Psychotherapieforschung keine spezifischen Effekte herausfinden kann und allen, Erfahrenen und Unerfahrenen, Kurz- und Langtherapierten, lange und intensiv gegenüber kurz oder gar nicht Ausgebildeten, ja sogar Laien (GARFIELD dt. 1982), letztlich dieselbe mehr oder minder unspezifische allgemeine Wirkung zuerkennt, sind mehrere Schlüsse möglich:

    (1) Es gibt gar keine spezifischen Therapieeffekte, sondern nur allgemeine, die sozusagen in allen Psychotherapien mehr oder weniger enthalten sind und praktiziert werden (> Sponsel 1995, Reader: von FRANK, J. D. dt. 1981, orig. 1961, wurden die allgemeinen Faktoren, die allen Psychotherapien mehr oder weniger gemeinsam sind, ausgearbeitet)

    (2) Die Psychotherapieforschung ist nicht angemessen entwickelt, wird ungenau oder / und fehlerhaft angewandt mit den möglichen Hauptfehlerquellen:

    (2.1) Es wurde nicht genau differenziert, welches spezifische Heilmittel untersucht werden soll, so daß ein "Gemisch", ein "Gesamt" untersucht wurde. Die verschiedenen Ansätze und Methoden sind mit vielen Heilmitteln, die in einer Psychotherapie zum Tragen kommen, konfundiert. Da jedes Heilmittel prinzipiell auch negativ wirken kann, können Kompensationseffekte eingetreten sein, die nicht kontrolliert wurden. Die Vielfalt der Heilmittel ist in der traditionellen Psychotherapieforschung gar nicht gesehen worden und ein Novum unserer Arbeit.

    Beispiel  (2.1): Eine mögliche Erklärung

      Eine Psychotherapie, die bei spezifischen Ängsten das kriterienvalide Heilmittel Stellen nicht fördert, wird in aller Regel auf dieser wichtigen Symptomebene nicht den Erfolg vorweisen können wie Psychotherapien, die das Heilmittel Stellen explizit fördern und den kriterienvaliden Heilmittelwert erkennen und daher auch verlangen. Es ist klar, daß in der Psychotherapieforschung, um diese Effekte leicht beweisen zu können, ein Extremgruppenvergleich das optimale Versuchsdesign liefert, z. B.: [FN13]

    Störung: spezifische Phobie

             Symptombesserung im Extremgruppenvergleich
    Stellen angewendet                       VT
    Stellen nicht angewendet                 GT

    In diesem Fall sind z. B. die Gesprächspsychotherapie und die Verhaltenstherapie Psychotherapeutische Extremgruppen. Der Psychotherapieerfolg muß, wenn unsere Theorie richtig ist, bei Verhaltenstherapien wesentlich besser ausfallen als bei Gesprächspsychotherapien nach Rogers.

    Umgekehrt: Die Gesprächspsychotherapie und das Focusing von GENDLIN müßte bei allen Störungen, bei denen das Heilmittel Empfinden_Fühlen_Spüren eine wichtige Rolle spielt, z. B. beim Streßsyndrom, erfolgreicher sein als z. B. die Verhaltenstherapie oder die Psychoanalyse, die hierfür überhaupt kein explizites Heilmittelkonzept hat [FN14].

    (2.2)  Es wird nicht genau analysiert und gesichert, was die TherapeutInnen wirklich tun und was genau in der Therapie geschieht, weil das, was PsychotherapeutInnen über ihre Arbeit sagen, oft etwas anderes ist als das, was sie wirklich tun. Hier spielt auch Schuldogmatismus und Schulpolitik eine unglückselige Rolle [FN15].

    (2.3)  Andere Faktoren, die auch negativ wirken können und mit der Therapie konfundiert sind (positive und negative Lebensereignisse, äußere Bedingungen und Ereignisse), werden nicht genügend kontrolliert. Für dieses Problem ist natürlich der Gruppenversuch bei sorgfältiger Kontrolle der wirksamen Variablen dem Einzellfallversuch überlegen, weil man annehmen darf, daß sich diese Faktoren im statistischen Mittel "herausmitteln". Bedenkt man aber die astronomischen Zahlen an Variablenkombinationen, ist auch dieser Ansatz erst noch mathematisch gründlich zu untersuchen. Denn bei solchen astronomischen Möglichkeiten ist die "Herausmittelungs-Hypothese" nicht so ohne weiteres aufrecht zu erhalten.

    (2.4)  Das spezifische Heilmittel, dessen Wirksamkeit untersucht werden soll, wird (feld-) experimentell nicht genügend vergleichend abgesichert (Mangel an externer Validität, "Labor-Evaluation")

    (2.5)  Die Meßverfahren und -Anwendungen sind nicht genügend repräsentativ, vernünftig und valide oder vergleichbar.

    (2.6)  Statistische Artefakte etwa bei Mittelwertsvergleichen verwischen die Unterschiede und unterschiedliche Effekte gleichen die Werte aus.

    (2.7)  Auf unterschiedliche Streuungen in den Me werten und ihre Quellen wird nicht genügend geachtet.

    (2.8)  Intra- und interpsychische Verschiebungsphänomene werden nicht kontrolliert.

    (2.9)  Design oder / und Methode sind der Fragestellung nicht genügend angemessen.

    (2.10) Idiographische Faktoren wurden nicht angemessen berücksichtigt bei der Gruppenbildung. Eine theoretische Problematisierung und Rechtfertigung, weshalb gerade die PatientInnen in einer Forschungsgruppe zusammenfaßt wurden, ist nicht erfolgt (man wirft in einen Topf, was man eben hat; für eine Stichprobentheorie existiert gar kein Pro-
    blembewußtsein - der Regelfall in der empirischen Praxis).

    (2.11) Einzelfall-Evaluationen sind gar nicht erwogen worden.

    (2.12) Die Forschung ist von den Interessen der AuftraggeberInnen oder der Erforschten beeinflußt worden ("Parteiengutachten")

    (2.13) Die unterschiedlich ausgeprägten Selbstheilungskräfte der PatientInnen wurden weder erhoben noch kontrolliert.

    (2.14) Fördernde bzw. hinderliche Einflüsse in den PatientInnen, PsychotherapeutInnen und der P-P-Beziehung wurden nicht berücksichtigt.

    (2.X)   Andere Fehler (Rest- und Auffangkategorie).

    (3) Allgemeine, spezielle Faktoren und Fehler wirken zusammen: vermutlich der wahrscheinlichste Fall.
     

    Keine Kontrolle von Symptomverschiebungen

      Von einem Psychotherapieerfolg im wirklichen Sinne kann nur gesprochen werden, wenn keine intra- oder interpsychischen Symptomverschiebungen eingetreten sind. Den "normalen" Psychotherapieforschungsstudien ist im allgemeinen nicht zu entnehmen, ob eine Kontrolle der Symptomverschiebungen stattgefunden hat - wahrscheinlich in den allermeisten Fällen nicht. Auch das kann ein Grund für die meist nur allgemeinen Effekte sein, die gefunden wurden. Von daher betrachtet, ist die Validität von Studien, mögen sie auch mit Kontrollgruppen gearbeitet haben, in Frage gestellt, wenn solch wichtige Variablen wie Symptomverschiebungen nicht kontrolliert wurden.

    Keine Kontrolle äußerer Faktoren
      Das Problem hat schon FRANK (dt. 1981, orig. 1961, S. 455) klar gesehen: "Ein schwierigeres Problem im Hinblick auf Besserungen ist, zu bestimmen, wieviel davon tatsächlich durch die Therapie bedingt ist. Die Psychotherapiesitzungen machen nur einen winzigen Bruchteil der Begegnung des Patienten mit anderen aus; also könnten die der Psychotherapie zugerechneten Ergebnisse in Wahrheit durch gleichzeitig andere Ereignisse in seinem Leben verursacht sein, zum Beispiel wenn der Patient Hilfe von jemand anders als vom Therapeuten erlangt. Aufs Konto der Therapie kann verbucht werden, was tatsächlich durch eine Änderung in der Lebensweise des Patienten bedingt ist, zum Beispiel durch eine Heirat; oder umgekehrt können therapeutische Erfolge durch eine persönliche Katastrophe ausgelöscht werden."Es ist also folgendes Kontrolldesign anzulegen, wenn wir von folgenden Fällen ausgehen: Therapie = (+,-,o), äußere Faktoren wirken (+,-,o):

                                                                   Äußere Faktoren
                                 1+      2-    3o
                Therapie         +       -     o
                    1+           ++      +-    +o
                    2-           -+      --    -o
                    3o           o+      o-    oo
     

      In Zelle 21 werden negative Effekte der Therapie durch positiv wirkende äußere Faktoren ausgeglichen. Umgekehrt werden in Zelle 12 positive Effekte der Therapie durch negative äußere Faktoren zunichte gemacht. Zelle 31 besagt, obwohl die Therapie keinen Effekt hat, ergibt sich infolge positiver äußerer Wirkungsfaktoren ein insgesamt positiver Effekt, der zu Unrecht der Therapie angerechnet würde.

    Keine Kontrolle der Selbstheilungskräfte

      Aus den sog. "Spontanremissionen" - (zur EYSENCK-Debatte siehe BASTINE 1992, S. 287 ff) -, aber auch durch ganz alltägliche Beobachtung wissen wir, daß Symptome, ja sogar schwere Krankheitsbilder "von selbst" verschwinden können. "Von selbst" verschwindet natürlich in Wirklichkeit gar nichts. Wenn Krankheiten ohne die Behandlung eines Fachkundigen heilen, so heißt das nur, daß man ihn nicht unbedingt braucht. Kein Geringerer als E. BLEULER (1919, S. 17 > Reader, Sponsel 1995) thematisiert gar die - von ihm so benannte - Udenustherapie [FN16], worunter eine Heilung verstanden wird, wenn der Arzt nichts tut. Und voller bösem Spott zitiert er den großen SYDENHAM (1624 - 1689), "die Ankunft eines Hanswurstes in einem Städtchen sei nützlicher für die Gesundheit als die Ankunft von 20 mit Medikamenten beladenen Eseln. ... Von unserer Medikamentengroßindustrie hat er noch nichts gewußt, sonst hätte er vielleicht statt von Eseln von Fabriken gesprochen." (S. 18). Verschärfend möchte ich fast noch hinzufügen: und so mancher wird gesund - trotz Psychotherapie, um uns an unserer eigenen Nase zu packen.
        Obwohl die Literatur zur Selbstheilung offensichtlich angewachsen ist (MAEDER 1949; BECK 1981; COUSINS 1981; JAFFE 1983; SPONSEL 1984; GEIGER-DOLD 1986; WEIL 1988), wurden keine Meßinstrumente
    oder Operationalisierungsleitfäden vorgelegt. Ich selbst habe deshalb 1983 - 1984 einen Pilottest LGWS [FN17] mit 50 Items entwickelt und pilot-evaluiert (PR-Normen für die Idealstichprobe relativ Zufriedene und Gesunde). Das
    Verfahren hat sich für die Therapieplanung und zur indirekten Erfolgskontrolle auch bewährt; die Studien sind aber infolge vieler anderer Verpflichtungen und Interessen noch nicht abgeschlossen. GENDLIN (1981, S. 16 > Reader) behauptet, daß die Fähigkeit, die Bedeutungen seiner Affekte erlebnismäßig zu kennen, darüber entscheidet, ob jemand ein Therapieerfolg wird oder nicht. Das wäre demnach ein sehr wichtiger Selbstheilungsfaktor.
        Die traditionelle Psychotherapieforschung scheint sich - mit Ausnahme der Gesprächspsychotherapie, deren Krankheitslehre ja direkt auf dem Selbstheilungsaxiom und der Kongruenzhypothese aufbaut - für das Phänomen
    der Selbstheilung und wie ihre Kraft operational geschätzt werden, nicht zu interessieren. Daher kann sie diesen auch nicht kontrollieren.

    Keine Kontrolle  therapie-förderlicher Faktoren in PatientIn, PsychotherapeutIn, P-P-Beziehung und im Psychotherapie-Prozeß

      Hier ist, da schon als eigener Punkt oben behandelt, die Selbstheilungskraft, ausgenommen. Die Beziehungshaltungs- Variablen sind dank der Gesprächspsychotherapie ziemlich gut erforscht, wenn auch zu ROGERs Zeiten und von TAUSCH und anderen überschätzt worden. Ich denke an Variable wie z. B. Leidensdruck, Motivation, Einsichtsfähigkeit, Experimentierbereitschaft, Verarbeitungsfähigkeit der psychotherapeutischen Ereignisse, Selbstverantwortung, Aktivität. Das alles sind Faktoren, von denen ich meine, daß sie den therapeutischen Erfolg günstig beeinflussen. Andere Prozeßfaktoren wären z. B. frühe Erfolgserlebnisse, Einstellung und Umgang mit Abwehr und Krisen, Strukturierung, zeitliche Limitierung, von der z. B. bekannt ist, daß sie wichtig ist (zusammenfassend BASTINE 1992  S.  250).

    Zusammenfassung
    Die Psychotherapieforschung gibt mehr Rätsel auf, als daß sie aufklärt. Viele Phänomene wirken wunderlich und wenig überzeugend. Dies läßt grundlegende Zweifel aufkommen, ob die PsychotherapieforscherInnen ihr Geschäft wirklich richtig verstehen und genügend praktische Erfahrung haben, um diesen hochkomplexen und komplizierten Phänomenen angemessen zu begegnen. Wir werden in der GIPT daher in der Hauptsache einen ganz anderen und sicheren Weg gehen: die Einzelfall-Psychotherapieevaluation über gründliche Dokumentation und Kontrolle bevorzugt - wenn möglich - mit kriterien-validen Heilmitteln. Damit ist einerseits der PraktikerIn sehr gedient. Andererseits kann die GruppenforscherIn aus solchen Einzelfällen ja jederzeit Gruppen und Klassen bilden.

    Ende


    Querverweise (grau unterlegt in Vorbereitungblau unterstrichen aufrufbar):
    • Überblick Wissenschaft
    • Über den Aufbau einer präzisen Wissenschaftssprache in Psychologie, Psychopathologie, Psychodiagnostik und Psychotherapie aus Allgemeiner und Integrativer Sicht.
    • Welten und  die Konstruktion unterschiedlicher Wirklichkeiten in der GIPT.
    • Eine wissenschaftlich faire Literaturanalyse zur Wissenschaftlichkeit der Psychotherapieverfahren durch Erhebung von veröffentlichten Arbeiten zu oder mit folgenden Themen: Dokumentation, Evaluation, Faellberichte, Indikation und Outcome (Wirkungsforschung).
    • Die Meta-Analyse von GRAWE et al. 1994 (Erfassung bis Ende 1983).
    • Über den Aufbau einer präzisen Wissenschaftssprache in Psychologie, Psychopathologie, Psychodiagnostik und Psychotherapie
    • Überblick der Signaturen: Dokumentations- und Evaluationssystem Allgemeine und Integrative Psychotherapie
    • Testtheorie der Allgemeinen und Integrativen Psychotherapie.
    • Probleme der Differentialdiagnose und Komorbidität aus Sicht der Allgemeinen und Integrativen Psychotherapie
    • Introspektion, Bewußtseins- und Bewußtheitsmodell in der Allgemeinen und Integrativen Psychotherapie
    • Der Wissenschaftsbegriff und seine aktuelle Bedeutung
    • Zahlen und neue Zahlen zum Messen im Unscharfen, Flüchtigen, Subjektiven und idiographischen.
    • Konstruktivismus - Formen & Varianten




    Fußnoten, Anmerkungen, Hinweise

    FN00  GIPT= General and Integrative Psychotherapy, internationale Bezeichnung für Allgemeine und Integrative Psychotherapie.
    _______________
    FN01  Zur Wissenschaftstheoriediskussion siehe die Monographie von WRIGHT, G. H. v. (1974).
    _______________
    FN02  Sicher wäre der Rückschluß  nur bei der Äquivalenz oder der Replikation (notwendige Bedingung = Umkehrung der Implikation, Wahrheitswerte 1101 -> MENNE & BOCHENSKI 1965, S. 28), d. h. nur dann, wenn A folgt B. Nun aber B, also A. Weder Äquivalenz noch Replikation taugen für die klinische Alltagspraxis - wohl aber für die Evaluationsforschung -, da viele psychologische und psychotherapeutische Ereignisse eine Vielzahl von Quellen (wenn ... A,) haben können, z. B. gibt es viele Möglichkeiten und Ereignisse, die mir Freude oder Ärger bereiten können. Hingegen wird man in der Therapieerfolgskontrolle eine ganze Reihe von notwendigen Bedingungen für sinnvoll erachten, z. B. da  das quälende Symptom verschwunden oder in seinem quälenden Charakter deutlich gebessert ist.
    _______________
    FN03   Als forensischer Aussagepsychologe kann ich mich nur wundern, mit welchem Kenntnisstand zur Wahrheits- und Tatsachenforschung JuristInnen - neben anderen selbsternannten Fachleuten - auf Sexuellen Mißbrauch und Vergewaltigung im wahrsten Sinne des Wortes "losgelassen" werden. Die Diskussion ist derzeit sehr aktuell. Man möge aber erinnern, daß der in der deutschen forensischen Aussagepsychologie so oft falsch dargestellte W. STERN bereits 1910 klare und deutliche Kritik am Verfahren übte. Die Krokodilstränen, die Justiz, Politik und Öffentlichkeit über die mißhandelten Kinder nun vergießen - eine vermeidbare Folge-Mißhandlung ist das Verfahren der Strafprozeßordnung -,  sind nicht überzeugend und historisch provokant, denn PsychologInnen fordern seit 1910 (!) eine fach- und kindangemessene Behandlung im Strafverfahren.
    _______________
    FN04  Ganz so radikal stimmt es nicht. Immerhin ist die Arbeit von GROEBEN, N. und WESTMEYER, H. "Kriterien Psychologischer Forschung" aus dem Jahre 1975, der man wohl nicht absprechen kann, da  sie die Wissenschaftstheorie auf die Psychologie anwendet und die HERZOG ja auch in seinem Literaturverzeichnis erwähnt. Und WESTMEYERs "Logik der Diagnostik" ist von 1972.
    _______________
    FN05   Exkurs: Damals in Erlangen: Ich kann ein Lied davon singen, denn als ich in Erlangen studierte - 1971 - 1976 - war die Wissenschaftstheorie neben Rasch-Modell und Meßtheorie gerade "in". So wurden wir einerseits SpezialistInnen in Ratten- und Affenpsychologie, perfekte HochstaplerInnen in allen methodologischen Disziplinen, aber ein Seminar über die Liebe, die Freundschaft, Lebenskonzeption oder über den Mut, offensichtlich völlig unwichtige Dinge für die akademische Psychologie, das brachten sie nicht zustande. Kein Wunder, daß die StudentInnen in Hundertschaften zur humanistischen Psychologie überliefen, einige besonders Engagierte und Begabte wandten sich völlig enttäuscht von der Psychologie ab. Heute haben wir "den Salat" und die allergrößte Mühe, uns gegen die Therapieschulen zu behaupten. Das hat uns die Deutsche Gesellschaft für Psychologie eingebrockt, die völlig unfähig war, zu begreifen, daß die klinische Psychologie eine Alternative zu den Therapieschulen hätte aufbauen müssen. Und ein Narr, der seinen Beruf verfehlt hat, wenn er den Konflikt zwischen Theorie und Praxis aus dieser historischen Perspektive nicht nachvollziehen kann. Wir hatten nicht nur STEGMÜLLER, Statistik und "Testheorie" neben der auch nicht einfachen Physiologie zu verkraften, sondern auch den logischen Konstruktivismus, dessen Hauptvertreter Paul LORENZEN einen Lehrstuhl innehatte. Auch heute noch, wenn ich ans Studium zurückdenke, kommt mir die Galle hoch. Nicht etwa, weil ich Wissenschaftstheorie, Statistik oder Methodologie ablehnen würde. Ganz im Gegenteil. Aber mich erregt nach wie vor die "Schizophrenie" zwischen Lehre und praktischer Forschungswirklichkeit. Ich kann Leute nicht ernst nehmen, die ihre im Theorieseminarraum proklamierten Normen ein paar Meter weiter im Übungsraum völlig vergessen haben. Ich verlange Konsistenz, Kongruenz, Echtheit, Glaubwürdigkeit.
    _______________
    FN06   z. B. INHETVEEN, JANICH, KAMBARTEL, LORENZ, LORENZEN, MITTELSTRAß , SCHWEMMER, THIEL, WERBIK. Der Aufbau einer psychologischen Orthosprache wurde  von Dirk HARTMANN (Marburg) angepackt: Philosophische Grundlagen der Psychologie. Darmstadt: WBG. Das Problem ist aber so grundsätzlich, daß  die Föderation der Psychologischen Gesellschaften unter Einbeziehung wissenschaftstheoretischer SpezialistInnen, wie z. B. Dirk HARTMANN, einen ständigen Konstruktiven Normierungsausschu  einrichten sollten. Die Evaluation und Validierung der konstruktiven Sprachnormierung muß  sich an der Praxisfront bewähren; daher ist die Hinzuziehung von PraktikerInnen unerläßlich. Prof. WERBIK in Erlangen habe ich ebenfalls angeregt, seine alten Ideen einer konstruktiven Sprachnormierung wieder aufleben zu lassen. Ich bin allerdings streng dagegen, daß hier wieder nur TheoretikerInnen beisammensitzen. Wenigstens die praxisrelevanten Begriffe müssen so normiert werden und evaluierbar sein, daß sie für x-beliebige Menschen ab einem IQ von 85 lehr- lernbar sind. [aktualisiert 1.7.2].
    ______________
    FN07  D. h. in der Situation des Psychotherapeutengesetzes 1995 aus Sicht der unheiligen Allianz Psychoanalyse und Verhaltenstherapie: die anderen müssen draußen bleiben, was den medizinischen StandesvertreterInnen nur recht ist, denn beide haben sie an der Leine des Delegationsverfahrens (d. h. die PsychologIn arbeitet unter der Fachaufsicht und in Abhängigkeit von der delegierenden ÄrztIn), eine unwürdige Situation für selbstbewußte Psychologische PsychotherapeutInnen - leider keine Theodor REIKs.
    _______________
    FN08   Die Einzelfall Reliabilität und Validität wird von der Testtheorie nicht oder nicht angemessen geleistet. Eine vernünftige einzelfallorientierte Testtheorie hat die Psychologie bislang nicht hervorgebracht (SPONSEL 1994). Hierzu müßte erst die längst überfällige Zerschlagung der sog. "klassischen" Testtheorie vollendet werden. Die "RASCHianerInnen" haben hier wertvolle Arbeit geleistet, aber es ist still geworden um sie. Und was lehrt uns das: die SzientistInnen wollen "messen", wollen in der Illusion der Wissenschaftlichkeit schwelgen und dann wird halt gemacht, was geht, was da ist. Und "da" sind eben klassisch konstruierte Tests. Im Prinzip ist die Alternative, die kriterienorientierte Testtheorie, im Ansatz und in der Grundlage schon entwickelt (KLAUER 1987), aber sie wird in der Psychologie nicht konsequent vorangetrieben. Die Testheorie des 21. Jahrhunderts wird kriterien- und einzelfallorientiert sein. Wir werden nicht mehr subsummieren, ProbandInnen und uns selbst bei der Abnahme und Auswertung verbiegen müssen. Wir werden jedes einzelne Kriterium so exakt wie nur möglich für den konkreten Einzelfall erfassen. Diagnostik, Ätiologie,  Therapieplanung und die Therapie selbst werden dann nahtlos ineinander übergehen.
    _______________
    FN09  Vgl. das brillante forensisch-experimentelle Gutachten "Tatsituation oder Fahndungsfotos" von H. Schindler und M. Stadler (1991). Strafverteidiger (1). Das ist wissenschaftliche und praktische Psychologie vom allerfeinsten.
    _______________
    FN10  Prinzip, das ich im Rahmen der forensischen Psychologie, vor allem im Bereich der Aussagepsychologie entwickelt habe, um sukzessive sichere Aussagen systematisch aufzubauen.
    _______________
    FN11 Vgl. auch die Modellrechnungen (1) die Möglichkeiten in einer Rogers-Therapiestunde bei angenommenen 50 Interaktionen sind 850 und (2) Kap. 4.3.1, wo die qualitativen Beziehungs-Möglichkeiten in einer Vierpersonenfamilie mit Selbstbeziehungen mehr als 4 Billionen und ohne Selbstbeziehungen immerhin noch fast 17 Millionen betragen. Diese Zahlen demonstrieren eindrucksvoll, da  wir neue Wege gehen müssen.
    _________________
    FN12  Im Grunde ist die gesamte Heilmittelprüfung, Medizin und Pharmazie davon betroffen. Der sog. "exakte", naturwissenschaftliche Ansatz ist bei genauer Betrachtung alles andere als exakt, weil es nämlich immer um relativ einzigartige Individuen und relativ einzigartige Lebenssituationen geht.
    _______________
    FN13  Selbst solche einfachen Überlegungen scheinen der Psychotherapieforschung relativ fremd zu sein, anders ist nicht erklärbar, weshalb solche differenzierten Heilmittel-Wirkungsvergleichsstudien nicht durchgeführt werden. Selbst im GRAWE et al. (1994) findet sich noch keine einzige richtige differentielle Extremgruppen-Vergleichsstudie. Es hat aber auch damit zu tun, daß die Psychotherapieforschung über keine allgemeine Heilmittellehre verfügt, mit der beliebige Methoden und Schulen bequem analysiert werden können. Einen solchen Mißstand gibt es in der GIPT nicht mehr, da sich unser Ansatz gerade durch seine extreme Differentialanalyse der psychologischen Heilmittel vor jeder Psychotherapieschule auszeichnet.
    _______________
    FN14  Obwohl sie neuerdings eine hervorragende historische Arbeit zur Empathie durch PIGMAN (1995) vorgelegt hat.
    _______________
    FN15  So ergibt sich z. B. aus einer Aufzeichnung von FERENCZI  (1919, veröff. 1927, 19642, S. 59 - 60), der wegen der Symptomhartnäckigkeit seiner Angsthysterien eine Supervision bei FREUD nahm, da dieser schon vom praktischen Wert der Konfrontationstherapie wußte und FERENCZI diese auch mit Erfolg empfahl. Aber diese als direktiv abgelehnte Methode hat niemals den Status eines psychoanalytischen Heilmittels bekommen und ist aus schuldogmatischen Gründen im Supervisionsseparee abgehandelt worden. So gehen also einige angsthysterische Therapieerfolge FERENCZIs nicht auf die Anwendung der Psychoanalyse, sondern auf die Verabreichung des Heilmittels STELLEN (Konfrontation) - das GOETHE schon erfolgreich bei sich anwandte -  zurück. Extrem sind die Differenzen zwischen Theorie und Praxis bei der Gesprächspsychotherapie. Hier wissen wir von HOWE (1982 a, S. 7), da  80 % der GesprächspsychotherapeutInnen Methoden aus anderen Therapieschulen hinzunehmen. Ein solches Problem haben wir zum Nutzen unserer PatientInnen nicht, weil unser Ansatz keine Dogmen kennt.
    ________________
    FN16  Einstellung der Wiener Schule im 19. Jahrhundert: Oudenotherapie = Verzicht auf jede Arzneitherapie infolge übermäßiger Kritik. Nach: HABERMANN & LÖFFLER (1979, S. 1).
    ________________
    FN17  der LGWS  ist im EDV-Auswertungsdienst des CST-Systems enthalten, aber als Manual zur Selbstauswertung noch nicht veröffentlicht.



    Änderungen - wird unregelmäßig überarbeitet; kleine Änderungen werden nicht extra dokumentiert
    24.10.06    Links, Layout.


    Querverweise
    Standort: Grundzüge einer idiographischen Wissenschaftstheorie.
    *
    • Eine wissenschaftlich faire Literaturanalyse zur Wissenschaftlichkeit der Psychotherapieverfahrendurch Erhebung von veröffentlichten Arbeiten zu oder mit folgenden Themen: Dokumentation, Evaluation, Faellberichte, Indikation und Outcome (Wirkungsforschung).
    • Die Meta-Analyse von GRAWE et al. 1994 (Erfassung bis Ende 1983).
    • Aus der Meta-Analyse von Smith, Glass & Miller 1980.
    • Psychotherapieforschung, Evaluation und Qualitätssicherung in der GIPT-Praxis.
    • Über den Aufbau einer präzisen Wissenschaftssprache in Psychologie, Psychopathologie, Psychodiagnostik und Psychotherapie.
    • Überblick der Signaturen: Dokumentations- und Evaluationssystem Allgemeine und Integrative Psychotherapie.
    • Testtheorie der Allgemeinen und Integrativen Psychotherapie.
    • Probleme der Differentialdiagnose und Komorbidität aus Sicht der Allgemeinen und Integrativen Psychotherapie.
    • Introspektion, Bewußtseins- und Bewußtheitsmodell in der Allgemeinen und Integrativen Psychotherapie.
    • Der Wissenschaftsbegriff und seine aktuelle Bedeutung.
    • Zahlen und neue Zahlen zum Messen im Unscharfen, Flüchtigen, Subjektiven und idiographischen.
    • Konstruktivismus - Formen & Varianten. * Vulgärkonstruktivismus.
    *
    Suchen in der IP-GIPT, z.B. mit Hilfe von "google": <suchbegriff> site:www.sgipt.org
    z.B.  Psychotherapieforschung site:www.sgipt.org. * Metaanalyse site:www.sgipt.org
    *
    Dienstleistungs-Info.
    *

    Zitierung
    Sponsel, R.  (DAS). Die grundlgenden Probleme und Aporie jeglicher Einzelfall- und damit Therapieforschung. Grundzüge einer idiographischen Wissenschaftstheorie. Internet Publikation  für Allgemeine und Integrative Psychotherapie  IP-GIPT. Erlangen:  https://www.sgipt.org/wisms/ptf/aporie.htm
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     Ende _Idiographie_Überblick_Rel. Aktuelles_Rel. Beständiges_ Titelblatt_ Konzept_ Archiv_ Region_ Service_iec-verlag_
    __Wichtige Hinweise zu Links undEmpfehlungen_

    Änderungen Kleinere Änderungen werden nicht extra ausgewiesen; wird gelegentlich überarbeitet und ergänzt.
    14.03.15   Linkfehler geprüt und korrigiert.