Analyse des sprunghaften Anstiegs der "Ehrenmorde" in Deutschland ab 2007
Originalarbeit von Rudolf Sponsel, Erlangen
Anlass der Fragestellung
Ich ergänzte auf meiner Seite
FAQ Integration
und Migration mal wieder die Liste
der "Ehrenmorde" nach den Angaben der kritischen Seite
"Ehrenmorde.de". Dabei hatte ich die Idee, die Zahlen für die Jahre
graphisch darzustellen. Dabei fiel mir auf, dass sich die Zahlen ab 2007
sehr stark und anhaltend erhöhten. Waren es 2001 - 2006 im Mittel
unter 5, vervielfachten sich die Fallzahlen. Bei der Erfassung er sog.
"Ehrenmorde" gibt es eine Reihe von Problemen, die sich von der Definition
über die Dunkelziffer bis hin zu falsch positiven Fehlern erstrecken,
so dass es sich natürlich nur um Schätzungen handelt. Die Zahlenunterschiede,
auch wenn sie nur Schätzungen sind, sind aber so groß, dass
eine Klärung geboten erscheint. Die geringen Fallzahlen
vor 2007 sind aber gut bestätigt durch die erste offizielle statistische
Untersuchung des Bundeskriminalamtes für die Jahre 1996-2005: "Davon
sind jährlich bis zu drei Fälle als Ehrenmorde
im engeren Sinn anzusehen." (Oberwittler & Kasselt 2011, S.
74) Nachdem die Politik, Rechtswesen und Statistik
es offenbar nicht für nötig erachten, das Phänomen auch
statistisch ordentlich zu dokumentieren, gibt es keine anderen "offiziellen"
Zahlen, so dass ich die von "Ehrenmorde.de" mitgeteilten als eine gute
Schätzbasis zugrunde lege. Nachdem eine Anfrage in der newsgroup de.soc.recht.strafrecht
weitgehend ergebnislos blieb, habe ich mir die Fragestellung noch einmal
vorgenommen und zunächst folgendes brainstorming
zu möglichen Explorationsmethoden
gemacht.
Vorlaeufige
Ergebnisse der Pilotstudie Vorausgesetzt wird, dass die Zahlenangaben
zumindest in der Größenordnung ungefähr stimmen. Das
Schätz-Ergebnis mutet paradox an, besagt es doch, auf den ersten Blick,
dass öffentliche Präsenz und Auseinandersetzung mit dem Thema
anscheinend die Anzahl der sog. "Ehrenmorde" befördert - statt zu
senken, wie sich das die meisten an den Menschenrechten Orientierten wünschen.
Auch mich hat dieses Ergebnis verblüfft und ich sträubte mich
dagegen. In mir gibt es Motive, die nicht wollen, dass es stimmt. Das bestätigt
aber wieder einmal, wie wichtig es ist, Zahlen und Fakten zu befragen,
nicht einfach zu meinen,
wie das die Justizpsychiatrie
so unverantwortlich tut.
Der starke Ansteigen der "Ehrenmorde" ab 2007 lässt
sich derzeit am besten mit der (paradox
anmutenden) Hypothese erklären, dass die mediale, öffentliche
und wissenschaftliche Aufmerksamkeit das Thema ab 2004 sehr stark in den
Mittelpunkt gerückt hat, wodurch bei vielen "Ehrenmord"-Motivierten
eine Reihe von Beweggründen aktiviert worden sein könnten, wie
ich sie im Hypothesen-Brainstorming
aufgestellt habe.
Die hohe Korrelation
r3=0.9528 zwischen Zunahme der "Ehrenmorde" und der ca. 3 Jahre vorauslaufenden
Medienpräsenz ist für das bloße
Auge offensichtlich. Aber auch die Strafrechtsreform 2004 (rechtskräftig
1.6.2005) in der Türkei dürfte das Thema "Ehrenmord" massiv aktiviert
haben. Wahrscheinlich ist auch die fundamentalistische Wende in der Türkei,
die Abwendung vom Kurs Kemal Attatürks ein nicht zu vernachlässigender
Faktor. Dazu gehört auch der Aufstieg Erdogans, der ja aus der 1998
verbotenen Wohlfahrtspartei kommt, die mit Dhihad und Scharia liebäugelte:
„Die Demokratie ist nur der Zug, auf den wir aufsteigen, bis wir am Ziel
sind. Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Minarette unsere Bajonette,
die Kuppeln unsere Helme und die Gläubigen unsere Soldaten.“
[W]
Erdogan stärkt die fundamentalistische Einstellung der Türken,
umso mehr, als er die in Deutschland lebenden Türken, vor Assimilation
warnt. [2003: "Integration ist nicht Assimilation", so derStandard
3.9.2003; "2008: " „Assimilierung ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit“;
wiederholt 2010]
Zusammenfassung Quellen-Recherche Die statistische Lage ist unerfreulich. Die Versteckspiele unter Berufung auf Political Correctness ist nicht im deutschen und europäischen Interesse - und schon gar nicht im Interesse der Opfer. Transparenz und Klartext wie auch eine Weiterentwicklung des Rechts für Familienclans, die sog. "Ehrenmorde" zu verantworten haben, sind angesagt. Die Recherche gestaltete sich ziemlich mühevoll, aber letztlich wurde ich doch fündig mit zwei wichtigen Quellen: (1) Die Medienanalyse Oberwittler & Kasselt (2011), die hier ausgiebig angewandt und gerechnet wird, aber auch (2) der Hinweis in den Chroniken 2004 und 2005 auf die türkische Strafrechtsreform 2004 und 2005. Diese dürfte eine umfangreiche Diskussion unter den Türken bewirkt haben.
Chronik Register Jahr |
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Suchwort Erdogan | 28, 31, 179 | kein Eintrag | 170, 190, 204 | 65, 118, 186, 191 |
Suchwort Türkei | 31, 88, 97, 108, 179, 209, 221 | 17, 83, 86, 104, 105, 119, 177, 221
Strafrechtsreform 105 |
141, 190, 221 | 21, 65, 118, 191, 206, 221 |
Suchwort Ehrenmord | kein Eintrag | nicht im Sachregister, aber S. 105 erwähnt | kein Eintrag | kein Eintrag |
Suchwort Zwangsheirat | kein Eintrag | kein Eintrag | kein Eintrag | kein Eintrag |
Suchwort Kriminalität | kein Eintrag | kein Eintrag | 32, 145, 181, 194; nicht im Zusammenhang mit Migration / Integration | 14, 33, 66, 139, 148, 182, 196 |
Suchwort Strafrecht... | kein Eintrag | nicht im Sachregister, aber S. 105 erwähnt | kein Eintrag | kein Eintrag |
Suchwort Integration | kein Eintrag | kein Eintrag | 125 Integrationsgipfel | kein Eintrag |
Suchwort Migration | kein Eintrag | kein Eintrag | kein Eintrag | kein Eintrag |
2004
und 2005 Strafrechtsreform in der Türkei Am 26.09.2004 verabschiedete
das türkische Parlament eine von der EU geforderte Strafrechtsreform.
In der Chronik 2004, S. 160, heißt es: "Das türkische Parlament
verabschiedet eine von der EU geforderte Strafrechtsreform. Ehebruch bleibt
in der Türkei auch künftig straffrei. Die ursprünglich geplante
Kriminalisierung ehelicher Untreue hatte die Beziehungen zur EU stark belastet
(-> 6.10./S. 179; 17.12./S. 208)."
Und in der Chronik 2005, S.
105, wird zum 1. Juni berichtet: "Türkei gibt sich neues Strafrecht
1.6., Ankara In der Türkei tritt
ein neues Strafrecht in Kraft, das die Menschenrechte stärkt und die
Rechtsstellung der Frau verbessert.
Das neue Strafgesetzbuch,
das vom Parlament in Ankara im September 4 verabschiedet wurde, trägt
der Forderung nach einer grundlegenden Reform der Strafvorschriften Rechnung,
die von der EU zur Vorbedingung für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen
(> 3.10./S. 177) gemacht wurde. Nach Protesten aus Brüssel verzichtete
die Türkei darauf, eheliche Untreue als Straftatbestand in das Gesetzbuch
aufzunehmen.
Die erste Neufassung des Strafrechts
seit der Gründung der modernen Türkei 1923 sieht schärfere
Strafen für Folter vor und führt Völkermord, Verbrechen
gegen die Menschlichkeit und Menschenschmuggel als neue Straftatbestände
ein.
Vergewaltiger müssen
mit höheren Strafen rechnen, und sog. Ehrenmorde - das Töten
weiblicher Verwandter, die angeblich durch ihren Lebenswandel die Ehre
der Familie beschmutzt haben - werden rechtlich genauso behandelt wie andere
Tötungsdelikte; bisher konnten die Täter vor türkischen
Gerichten oft auf Milde hoffen. Eine erzwungene Untersuchung von jungen
Mädchen auf ihre Jungfräulichkeit ist strafbar."
Kriminalitaetsstatistiken
"Ehrenmorde"
spielen in der offiziellen Kriminalitätsstatistik aus völlig
unverständlichen Gründen keine Rolle. Vom BKA gibt es aber eine
- inzwischen völlig überholte Studie von Oberwittler, Dietrich
/ Kasselt, Julia (2011) über den Zeitraum 1996-2005, weil der massierte
Anstieg ja erst 2007 so richtig einsetzte.
Internet/ Portale Hier ist die
beste Quelle die Seite "Ehrenmorde.de". Aber auch auf Frauen- und Gleichberechtigungsportalen
spielt das Thema, wie natürlich auch bei Amnesty International eine
wichtige Rolle.
Medienberichte Viele Medien haben
zu den sog. "Ehrenmorden" Themenseiten eingerichtet, z.B.: Der Focus, Der
Spiegel, Die Welt, Die Zeit, Süddeutsche Zeitung u.a.m.
Migrationsberichte
Die Migrationsberichte
sind öffentlich zugänglich. Ich habe 2004, 2005, 2006 und 2007
in Augenschein genommen. Suchbegriffe: Ehrenmord, Vergewaltigung, Gleichberechtigung.
Migrationsbericht Jahr |
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Suchwort Ehre | kein Eintrag | kein Eintrag | kein Eintrag | kein Eintrag |
Suchwort Familienehre | kein Eintrag | kein Eintrag | kein Eintrag | kein Eintrag |
Suchwort Ehrenmord | kein Eintrag | kein Eintrag | 99; sonst kein Eintrag | kein Eintrag |
Suchwort Vergewaltigung | kein Eintrag | kein Eintrag | kein Eintrag | kein Eintrag |
Suchwort Gleichberechtigung | kein Eintrag | kein Eintrag | kein Eintrag | kein Eintrag |
Suchwort Gewalt | kein Eintrag | kein Eintrag | kein Eintrag | kein Eintrag |
Suchwort Zwangsheirat | kein Eintrag | kein Eintrag | 99; Zwangsverheiratung | kein Eintrag |
Suchwort Kriminalität | kein Eintrag | kein Eintrag | Schleuser-; -sformen; | kein Eintrag |
Expertenbefragung Eine Anfrage in der newsgroup de.soc.recht.strafrecht bleibt inhaltlich völlig ergebnislos. Hingegen gab es im beck-blog 2008/09 einige Threads zum Thema "Ehrenmord".
_
Die
Medien- und Veroeffentlichungsanalyse von Oberwittler & Kasselt
(2011)
Ich fand bei meinen Recherchen nur einen Befund,
der als Erklärungsbasis taugen könnte, nämlich in der BKA
Veröffentlichung von Oberwittler & Kasselt (2011),
Ehrenmorde in Deutschland, S. 2f:
Medienpräsenz
Thema "Ehrenmord"
Quelle: Statistische Daten aus S.3: Oberwittler, Dietrich & Kasselt, Julia (2011) Ehrenmorde in Deutschland 1996-2005. Eine Untersuchung auf der Basis von Prozessakten. Projektnehmer: Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht. BKA & Luchterhand.
Die Hypothese
medialer "Inkubationszeit"
Im Folgenden werden die verschiedenen Ansätze zur medialen "Inkubationszeit",
von der ersten Grundidee bis zur Korrelationsrechnung dargelegt.
Die Grundidee der massierten Entsprechungen
Betrachtet man die die drei Häufigkeitstabellen fällt sofort
auf, dass sich die massiven Ballungen entsprechen. Dies führt zur
ersten hypothetischen Deutung: Die mediale Explosion der Thematisierung
könnte mit dem sprunghaften Anstieg ab 2007 in Zusammenhang stehen.
Es ist in diesem Fall klar, dass die mediale Explosion vorausgegangen sein
muss. Man sieht auf den ersten Blick, dass sich hier die Jahre 2007 und
2004 hinsichtlich des großen Anstiegs entsprechen. Man muss aber
seinem ersten Blick nicht trauen und kann es auch genauer
darstellen oder einfach ausrechnen.
Darstellung der Vor-Verschiebung um drei Jahre
_
Korrelationsberechnung
>
Zur
Frage der kausalen Interpretationslegitimation.
Hier verblüfft wieder einmal die hohe Korrelation angesichts der
beiden scheinbar ganz unterschiedlich verlaufenden Kurven ab Punkt 4.
Moral und Kultur sind nur Makulatur, wie alle Krisen, Umbruch- und Kriegszeiten zeigen - und die Tragödie und das Versagen der Guten war immer, dass sie viel zu selten schlecht genug waren, um gut genug gut sein zu können. |
* Vorbilder * Politische Alternativen * Alternativer Nobelpreis * |
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site: www.sgipt.org
z.B. Politische Psychologie site: www.sgipt.org. |
korrigiert: irs 23.-25.03.2016