Internet Publikation für Allgemeine und Integrative Psychotherapie
    (ISSN 1430-6972)
    IP-GIPT DAS=16.02.2014 Internet-Erstausgabe, letzte Änderung TT.MM.JJ
    Impressum: Diplom-Psychologe Dr. phil. Rudolf Sponsel Stubenlohstr. 20 D-91052 Erlangen
    Mail:_sekretariat@sgipt.org__ Zitierung  &  Copyright

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    Willkommen in unserer Internet Publikation für Allgemeine und Integrative Psychotherapie, Abteilung Bücher, Literatur und Links zu den verschiedensten Themen, hier die Buchpräsentation:

    Handlungspsychologie

    präsentiert von Rudolf Sponsel, Erlangen


    Bibliographie * Verlagsinfo * Inhaltsverzeichnis * Leseprobe * Ergebnisse * Bewertung * Die Autoren * Links * Literatur * Querverweise *

    Bibliographie:  Kaiser, Heinz Jürgen  & Werbik, Hans (2012) Handlungspsychologie. Eine Einführung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. [Verlags-Info] 1. Auflage 2012  235 Seiten mit 40 Abb. kartoniert ISBN 978-3-8252-3741-7  V&R UTB. Verlag.



    Verlagsinfo: "Handlungstheorien versuchen, menschliches Verhalten als Handlungen zu erklären. Diese Einführung legt dar, durch welche Grundannahmen, welches Menschenbild und welche Forschungslogik psychologische Handlungstheorien geprägt sind. Ein Schwerpunkt der Darstellung liegt auf Anwendungsmöglichkeiten der Handlungstheorie und der aktuellen methodologischen Diskussion in den Sozialwissenschaften. Mehr Informationen und Downloads bei: https://www.handlungspsychologie.de/"



    Inhaltsverzeichnis [hier]

    Zum Geleit  9
    Vorwort  11

    Teil 1:
    Grundlagen der Handlungstheorie

    Kapitel 1 : Wissenschaftliche Psychologie als Problem - Eine Einleitung  19
    Zusammenfassung und Kontrollfragen  28

    Kapitel 2: Der Begriff der Handlung  29
    2.1 Leitvorstellungen bei Theoriebildungen  29
    2.2 Näheres zum Begriff des Handelns  34
          2.2.1 Handeln als gewählte Verhaltensalternative  34
          2.2.2 Handeln als ein intendiertes und zielgerichtetes Verhalten  37
          2.2.3 Handeln unter ethischer Perspektive  41
    2.3 Handlungstypologien  41
    2.4 Über das Zustandekommen von Handlungen:
          Zur Unterscheidung von Gründen und Ursachen  47
    Zusammenfassung und Kontrollfragen  49

    Kapitel 3: Methodische Voraussetzungen einer Theorie menschlichen Handelns  51
    3.1 Aussagen über menschliches Handeln als „wahre“ Aussagen  51
          3.1.1 Zum wissenschaftlichen Begriff der Wahrheit  52
          3.1.2 Verschiedene Kategorien von Wahrheit  55
    3.2 Das Falsifikationsprinzip  58
    Zusammenfassung und Kontrollfragen  63

    Kapitel 4: Erklärungen menschlichen Verhaltens aus handlungstheoretischer Sicht  65
    4.1 Perspektiven der Erfahrungsbildung in der Psychologie: Grundsätzliches  65
    4.2 Deduktiv-nomologische Erklärungen  70
    4.3 Teleologische Erklärungen  78
    4.4 Narrative Erklärungen  81
    4.5 Fazit  83
    Zusammenfassung und Kontrollfragen  84

    Kapitel 5: Willensfreiheit  86
    5.1 Stellungnahmen zur Willensfreiheit aus der Psychologie  86
    5.2 Psychoanalyse und Handlungspsychologie  88
    5.3 Das Problem der Willensfreiheit: Ein Jahrtausend-Thema der Philosophie  90
    5.4 Die Auffassung der Neuropsychologie und die Auseinandersetzung mit ihr  96
    5.5 Fazit  98
    Zusammenfassung und Kontrollfragen  99

    Kapitel 6: Handlungstheoretisches Denken in sozialwissenschaftlichen Disziplinen  101
    6.1 Allgemeine und spezifische Aspekte der Handlungstheorie  101
    6.2 Wurzeln handlungstheoretischen Denkens  102
    6.3 Handlungstheorien in der Soziologie: Beispiel Ethnomethodologie  103
    6.4 Handlungstheoretische Konzepte in der Tätigkeitspsychologie  104
    6.5 Handlungstheorie in der Allgemeinen Psychologie: Motivationspsychologie  108
    Zusammenfassung und Kontrollfragen  111

    Kapitel 7: Kultur und Handlung  113
    Zusammenfassung und Kontrollfragen  121
     

    Teil 2:
    Die Theorie menschlichen Handelns in der Praxis

    Kapitel 8: Wissenschaftliche Psychologie und psychologische Praxis: Ein schwieriges Verhältnis?  125
    Zusammenfassung und Kontrollfragen  127

    Kapitel 9: Handlungstheorie als Basis empirischer Forschung: Sozialwissenschaft als Dialog/Beratungsforschung  128
    9.1 Forschung und Dialog  128
    9.2 Forschung als Dialog? „Beratungsforschung“  128
    9.3 Prinzipien der Beratungsforschung  130
    9.4 Das Prinzip der Nicht-Bevormundung  131
    9.5 Konsensbildung als erkenntnisleitendes Interesse  132
    9.6 Zweckrationalität als methodisches Prinzip  133
    9.7 Anwendungsfelder des Konzepts der Beratungsforschung  134
    Zusammenfassung und Kontrollfragen  135

    Kapitel 10: Handlungstheorie und interpersonale Konflikte: Konfliktberatung  137
    10.1 Handlungstheorie als Basis  137
    10.2 Allgemeine Vorschläge zur Gesprächsführung  138
    10.3 Spezielle handlungstheoretisch fundierte Vorschläge zu einer Konfliktberatungsstrategie  139
            10.3.1 Die Einleitung der Beratung  139
            10.3.2 Das Erstellen der Beschwerdeliste  139
            10.3.3 Die Aufforderungsanalyse  140
            10.3.4 Analyse der Zielsysteme  141
            10.3.5 Die Kontrolle der Beratungsergebnisse  142
            10.3.6 Ein Fallbeispiel  144
    Zusammenfassung und Kontrollfragen  147

    Kapitel 11: Konkretisierung der Handlungspsychologie in einer „verständnisbildenden“ Verkehrspsychologie  148
    11.1 Verkehrspsychologie jenseits „harter“ Daten  148
    11.2 Ein möglicher Gegenstand verständnisbildender Verkehrsforschung: Handlungsregulation  150
    11.3 Verkehrspsychologische Begutachtung als Rekonstruktion und Prognose von Handlungsorientierungen  153
    11.4 Ausblick  160
    Zusammenfassung und Kontrollfragen  161

    Kapitel 12: Handlungspsychologie und Gerontologie  162
    12.1 Alternsforschung und das Bemühen um ein positives Altersbild   162
    12.2 Handlungspsychologische Konzepte in der Gerontologie  163
    12.3 Handlungspsychologie - Ein Zugang zur subjektiven Welt alter Menschen  165
    12.4 Handlungspsychologisches Interpretieren als Schutz gegen Fehldeutungen  167
    12.5 Die Realisierung einer handlungspsychologisch-dialogischen Forschung  168
    12.6 Anwendung der handlungstheoretischen Konzeption im Hinblick auf aktuelle Fragestellungen: Mobilität im Alter  172
    12.7 Fazit  173
    Zusammenfassung und Kontrollfragen  175

    Kapitel 13: Aggressionen aus handlungspsychologischer Sicht: Hilfestellung für die Beratungspraxis  176
    Zusammenfassung und Kontrollfragen  182

    Kapitel 14: Analyse gesellschaftlicher Konflikte aus handlungstheoretischer Perspektive am Beispiel des Terrorismus   183
    14.1 Psychologie und gesellschaftliche Herausforderungen  183
    14.2 Zur Psychologie des Terrorismus  184
    14.3 Eine handlungspsychologische Analyse  187
    14.4 Fazit  192
    Zusammenfassung und Kontrollfragen  193

    Kapitel 15: Resümée  194
    15.1 Der Mensch als Gegenstand der Psychologie  194
    15.2 Anregungen zum Prozess der Theoriebildung  197
            15.2.1 Orientierungen bei der Theoriebildung  197
            15.2.2 Erste Theoriebildungs-Schritte  198
            15.2.3 Zum Begriff der Theorie  198
            15.2.4 Menschenmodelle  201
            15.2.5 Erkenntnisinteressen  202

    Literatur  205
    Arbeiten zum aktuellen Stellenwert der Kulturpsychologie  217
    Namensregister  221
    Sachwortregister  225
    Verzeichnis der Abbildungen/Quellennachweis  233
     



    Leseprobe:

    Grundlegende wissenschaftstheoretische Position
    Sie ist sehr wichtig, um den ganzen Ansatz richtig zu verstehen. Hierzu dient folgender Abschnitt (S. 25):
     

          "Die Untersuchung des Verhaltens von Menschen durch den Menschen ist kategorial verschieden von der Untersuchung der (unbelebten) Natur durch den Menschen. In keiner Wissenschaft sonst sind Untersuchungsgegenstand und Untersucher ontologisch ununterscheidbar. Während überall sonst einem erkennenden, reflexiven Subjekt ein nicht reflexives, nicht Kultur produzierendes, nicht sprachbegabtes Objekt gegenübertritt, sind in der Psychologie Subjekt und Objekt prinzipiell austauschbar (Holzkamp 1973).
          Dieser fundamentalen Unterscheidung zwischen der psychologisch-kulturwissenschaftlichen Situation und der Situation in den Naturwissenschaften wird die Unterscheidung zwischen Verhalten und Handlung gerecht. Wir können sagen: Handlungen sind Lebensäußerungen, die verstanden werden können, wenn wir annehmen, dass sie sprachlich vorbereitbar, planbar, der Argumentation prinzipiell zugänglich sind. Es sind Lebensäußerungen, die menschlichen Subjekten zueigen sind, welche Träger von Kultur sind.
          Verhalten ist dagegen eine Lebensäußerung, bei der von der Annahme, es handele sich um ein solch „reflektiertes“ Geschehen im oben beschriebenen Sinn, prinzipiell abgesehen werden kann. Einfache Reflexe wären ein Beispiel für Verhalten, dem man keine Sinngebung, keine Planung, keine Argumentationszugänglichkeit unterstellen muss. Ganz im Gegenteil, wer das täte, verstünde Reflexe zu Unrecht als Handlungen (für die man eine Person verantwortlich machen und zur Rechenschaft ziehen kann). Handlungen sind eine spezifische Klasse von Verhaltensweisen. FN2

      FN2 Eine sehr differenzierte Unterscheidung zwischen den Termini Verhalten und Handlung findet sich bei Graumann (1980)."


    S. 39:

      "Definition
      Ein handelndes Subjekt ist ein Mensch, der sich in dem, was er tut, Ziele setzt. Er tut etwas, um Ziele zu erreichen. Das ist der „Sinn“ seines Handelns, dessen „Sinngehalt“. Bei der terminologischen Rekonstruktion des Begriffs Ziel können wir festlegen, dass mit „Ziel“ eine Selbstaufforderung gemeint ist, einen bestimmten Sachverhalt herbeizuführen. Das Intentional-Zielgerichtete einer Handlung wird in allen Handlungstheorien betont (Werbik 1978; Aschenbach 1984; Straub 1999; 2010)."

     
      9.3   Prinzipien der Beratungsforschung

      "In jener Zeit, in der Forschungskonzepte und Forschungspraxis der Psychologie in die kritische Diskussion gerieten, wurde unter anderem das Problem der Übertragbarkeit des von der wissenschaftlichen Psychologie erarbeiteten Wissens in die Lebenspraxis, auch in die Praxis der Anwendung der Psychologie, näher untersucht. Die Frage war: Ist es möglich, aus psychologischen Gesetzesaussagen praktische Handlungsanweisungen logisch abzuleiten, wie es Prim & Tillmann (1973) gefordert haben? Bunge (1967) oder Westmeyer (1979) hielten dies nicht für möglich; die Ergebnisse der psychologischen Forschung schienen für die Lebenspraxis doch eher nur heuristischen Wert zu haben.
      Diese Zweifel waren nicht unbegründet. Die Beschäftigung mit der bevorzugten Methode des Experiments als Weg der Erkenntnisgewinnung hat nicht nur auf ein grundsätzliches Problem in Bezug auf Anwendung von so erzeugtem Wissen aufmerksam gemacht (vgl. Korthals-Beyerlein 1981):
       

      • Die Überprüfung der Geltungsbehauptung empirischer Allgemeinaussagen mittels psychologischem Experiment ist auf die Schaffung (relativ zu Alltagssituationen) sehr stark eingeschränkter und künstlich wirkender Situationen angewiesen.
      • Da „gehaltserweiternde“ Schlüsse nicht zulässig sind (Albert 1987), verlangt die Anwendung des Wissens eine Anwendungssituation, die der Situation der Erkenntnisgewinnung vergleichbar ist. Psychologische Erkenntnisse könnten deshalb nur dann in der Lebenspraxis „funktionieren“, wenn diese wie eine experimentelle Situation eingerichtet wäre, was ethisch nicht vertretbar und faktisch wohl auch kaum möglich wäre.
      • Das experimentell geschaffene Wissen ist deshalb schlecht praktisch einsetzbar, weil das Experiment das Phänomen, auf das sich die jeweilige Forschungsfragestellung bezieht, durch seine Regeln gegenüber der Lebenspraxis verändert. Es wird also ein Gegenstand untersucht, der so in der außerexperimentellen Lebenspraxis gar nicht vorkommt
      • Ein Experiment, das menschliches Verhalten untersucht, hat mit einem besonderen ethischen Problem zu kämpfen: Um den methodologischen Prinzipien gerecht zu werden, muss es die „Versuchpersonen“ im Unklaren über die tatsächliche Situation lassen. Es ist in der Regel auf eine Täuschung der Versuchspersonen angewiesen.
      • Für Forscher und Versuchspersonen gelten unterschiedliche Menschenbilder, was gerade auch im Hinblick auf die Anwendung der Forschungsergebnisse eine problematische methodologische Regel ist.


      In einer als Beratungsforschung organisierten sozialwissenschaftlichen Forschung werden die genannten Probleme vermieden durch die Gleichartigkeit von Erkenntnisbildungs- und Anwendungssituation. Das wird als „Koinzidenzprinzip“ der Beratungsforschung bezeichnet. Zudem wird das Erkenntnisinteresse nicht losgelöst von den praktischen Interessen der Problemüberwindung, insbesondere der Konfliktlösung. Erkenntnis ist kein Wert an sich, sondern wird von vornherein auf eine bestimmte Lebenspraxis hin angestrebt. Die dialogische Beratungsforschung ist eine recht pragmatisch orientierte Forschungskonzeption.
       

      9.4   Das Prinzip der Nicht-Bevormundung
      Die Verdoppelung der Realität (bewusst planend die Person des Forschers, bloß reaktiv die Versuchspersonen) hat sich, analysiert man Inhalte und Vorgehensweisen in der experimentellen Forschung genauer, als gravierende Erschwernis der Forschung herausgestellt. Die Unterschiedlichkeit von Nicht-Forscher (als Objekt) und Forscher (als Subjekt) existiert ja lediglich als eine kontrafaktische Unterstellung. Faktisch aber muss der experimentell tätige Psychologe ständig mit sinngehaltsgemäßem Handeln seiner Versuchspersonen rechnen, beispielsweise mit ihrer Fähigkeit, Situationen zu interpretieren, und ihr Tun entsprechend dieser ihrer Interpretationen auszurichten. Täuschungsprozeduren sind die Folge der Doppelbödigkeit im methodologisch-anthropologischen Ansatz der Forschung.
          Beziehen sich die Forschungsfragestellungen auf Sozialverhalten und soziale Beziehungen, werden die Art des in der experimentellen Forschung gewonnenen Wissens und seine Verwendungsmöglichkeit zum sozialen Problem. Seel (1981) argumentiert diesbezüglich so:
          „Wenn die Überprüfung des Wissens gebunden ist an Situationen, in denen eine Person(engruppe) nur als Objekt der Handlungen einer anderen Person(engruppe) in Erscheinung treten darf, ist leicht einzusehen, dass dieses Wissen praktisch auch nur in ähnlichen, d.h. Herrschaftssituationen, unproblematisch anwendbar ist.“ (S. 58 f.)
          Eine solche sozialwissenschaftliche Forschung verfehlt notwendigerweise das Ziel, zur Schaffung emanzipatorischen Wissens beizutragen, d.h. zu einem Wissen, das geeignet ist, Menschen zu einer größeren Freiheit, zu einer besseren Vertretung ihrer Interessen, zur besseren Einsicht in ihre Bedürfnisse und Möglichkeiten zu verhelfen. Es ist ja eher ein Herrschaftswissen, das geschaffen wird, ein Wissen über das „Funktionieren“ von Menschen unter bestimmten, herstellbaren Bedingungen. Wenn der Forscher zu Wissen gelangt, unter welchen Bedin-[>132]gungen Menschen zu einem bestimmten Verhalten zu bringen sind, markiert dies die Basis eines bevormundenden Verhältnisses des einen über den anderen.
          Die Aufhebung der Subjekt-Objekt-Unterscheidung in der handlungstheoretisch fundierten, dialogischen „Beratungsforschung“ geschieht im Interesse einer emanzipatorischen Zielsetzung der Forschung. Forscher und Nicht-Forscher erlangen in der Forschungssituation den Status von Partnern, die im Austausch miteinander und geleitet von denselben Interessen nach gültigen Aussagen über das Handeln von Menschen suchen. So ist das Prinzip der Nicht-Bevormundung als forschungsleitendem Prinzip zu verstehen.

      9.5   Konsensbildung als erkenntnisleitendes Interesse

      Wenn von Interessen und Zielen der Forschung die Rede war und dies auch noch mit dem Komplex sozialer und gesellschaftlicher Emanzipation der erforschten Subjekte verknüpft wurde, dann wird ein schwieriges Feld des Diskurses in den Sozialwissenschaften betreten. Schließlich hat die Debatte um die Wertgebundenheit vs. Wertfreiheit der Wissenschaft dort eine lange Tradition, besonders sichtbar geworden im sog. „Werturteilsstreit“ zu Zeiten Max Webers oder im Positivismusstreit der 60er und 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts (vgl. Adorno et al. 1972). Vertreter des Kritischen Rationalismus (etwa: Karl Popper, Hans Albert) warfen ihrer Gegenseite, den Mitgliedern der sog. „Frankfurter Schule“ (Theodor W. Adorno oder Jürgen Habermas) vor, das Postulat der Wertfreiheit der Wissenschaft zu verletzen. Der rationale (und emotionale) Kern des Wertfreiheitspostulats liegt in dem Unbehagen, das „wissenschaftsexterne“ Zwecke, nämlich solche des sozialen Lebenszusammenhanges, auslösen. „Lebenswelt“ bedeutet ja konkret auch immer politische, gesellschaftliche Welt. Die Freiheit, die sich die Beratungsforschung zum Ziel gesetzt hat, bezieht sich allerdings nicht auf eine spezielle politische Idee, sondern auf eine Befreiung von handlungserschwerenden, allgemein lebenserschwerenden Problemen. Ein besonders herausragendes Problem stellt das des Konfliktes mit anderen Menschen dar.
          Zweck der Forschung soll entsprechend vor allem sein, Erkenntnisse und Verfahrensweisen zu gewinnen, die eine Konfliktlösung ohne Gewalt und unter Konsens aller beteiligten Parteien möglich macht oder fördert. Selbstverständlich wird mit diesem lebenspraktischen Erkenntnisinteresse die Vorstellung der Erkenntnisgewinnung als eines (wertfreien) Selbstzweckes der Wissenschaft aufgegeben.
          Bernhard Badura hat 1976 vier typische Interessenkontexte sozialwissenschaftlicher Forschung angegeben, wenn sie den Schritt von der Grundlagenforschung zur Anwendung vollzieht, von denen der dritte direkt der handlungspsychologischen Beratungsforschung zugeordnet werden kann:
       

      1. Informierung und Aufklärung der Öffentlichkeit über bestimmte Sachverhalte und deren Zusammenhänge
      2. Intervention als planmäßiger Eingriff in ein System
      3. Konsensbildung im Rahmen von Konfliktlösungsbemühungen
      4. Legitimationsversuche zur Rechtfertigung politischer Entscheidungen


      Auch die Informierung und Aufklärung der Öffentlichkeit kann als ein dem Konzept der Beratungsforschung nahestehendes Erkenntnisinteresse angesehen werden.

      9.6   Zweckrationalität als methodisches Prinzip

      Da die prinzipielle Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt wissenschaftlicher Untersuchungen aufgegeben wurde, und die handlungstheoretische Beratungsforschung sich ausdrücklich zweckrational begründet, wird auch den Forschungspartnern zunächst grundsätzlich eine Orientierung ihres Handelns an Zielen / Zwecken unterstellt. Die Forschungspartner werden demnach als rational handelnde Personen gesehen. Diese prinzipielle Setzung („Zweckrationalität als methodisches Prinzip“) ist auch besonders hinsichtlich des Konfliktlösungsinteresses der Beratungsforschung sinnvoll, denn Konflikte werden primär als miteinander unverträgliche Zielsetzungen und/oder Mittelwahlen jener Personen definiert, die sich als Konfliktparteien identifizieren lassen. Wenn Zweckrationalität per methodischem Prinzip dem Forschungspartner (zunächst) unterstellt wird, „dann behandeln wir die Person, deren Handlungen wir beschreiben, deuten und erklären, so, als ob sie ... ihre Handlungen rational relativ zu ihren Zwecken vorbereiten würden“ (Schwemmer 1976, S. 148; Herv. i. Orig.). Zweckrationalität als methodisches Prinzip ist ein durchaus pragmatischer Einstieg in die Forschungssituation und ebenso in jene (Konflikt-)Beratungssituationen, die zum Anwendungsbereich der handlungspsychologischen Erkenntnisse gehören. Damit ist gemeint, dass die anfängliche Unterstellung der Zweckrationalität im Handeln der Person oder der Personen unter Umständen auch zurückgenommen werden muss, dass sie sich aufgrund des Verlaufs des Dialogprozesses als nicht haltbar erweist.
          Es kann durchaus vorkommen, dass interpersonale Konflikte keinen rationalen Hintergrund oder Ausgangspunkt haben, sondern beispielsweise durch miteinander unverträgliches affektuelles Handeln gekennzeichnet sind. Aber der Zweckrationalität ein methodisches Primat zu geben, stellt sicher eine brauchbare Richtschnur für die Suche nach der besten Lösung dar, sei es für die Konfliktlösung oder für die Formulierung sich bewährender Erkenntnisse über menschliches Handeln überhaupt."
       



    Ergebnisse.

    Im Folgenden habe ich zwei Ergebnisse ausgewählt: Anwendung verkehrspsychologische Begutachtung und Aus dem Resümée.

    Anwendung des handlungspsychologischen Beratungskonzeptes am Beispiel Verkehrspsychologie
    Nachdem der konkrete Auslöser für die erneute und intensivierte Zuwendung zu dem handlungspsychologischen Ansatz meine Auseinandersetzung mit forensisch-psycho-pathologischen Gutachten und die dort gänzlich abwesende subjektwissenschaftliche Orientierung war, möchte ich als besondere Leseprobe Heinz Jürgen Kaisers Methode für verkehrspsychologische Gutachten hier für sich selber sprechen lassen (S. 153ff):
     

      "11.3  Verkehrspsychologische Begutachtung als Rekonstruktion und Prognose von Handlungsorientierungen

      Die Suche nach einem Bereich psychologischer Praxis, in der die Orientierung an handlungspsychologischen Überlegungen nicht nur sinnvoll, sondern sogar geboten ist, führt demnach schnell zu einem Ergebnis. Bei einem Begutachtungsauftrag zur Frage der Fahreignung einer Person beispielsweise möchte eine Behörde oder ein Gericht in vielen Fällen einen Blick in die Zukunft eines Delinquenten werfen, um eine Entscheidung zu finden und zu begründen. Es geht darum zu ermitteln, ob von der Person ein auf der Straße gezeigtes Fehlverhalten am Steuer eines Autos auch in Zukunft wieder zu erwarten ist oder nicht. Genau so wird der Auftrag von Behörde oder Gericht an den Psychologen formuliert.
          Die Frage kann mit ausreichender Sicherheit (nur) dann beantwortet werden, wenn man ermittelt hat, welche Ideen und „Leitlinien“ eine Person in dem, was [>154] sie tut, berücksichtigt (oder nicht). Eine vollkommen sichere Prognose über zukünftiges Verhalten von Menschen kann es selbstverständlich nicht geben.
          Nehmen wir den Fall der Begutachtung eines verkehrsauffälligen Kraftfahrers, der wiederholt wegen der Missachtung verkehrsrechtlicher Bestimmungen und Bestimmungen der Straßenverkehrsordnung aufgefallen ist.
          Ein erster wichtiger Schritt zur Erfassung von Handlungsorientierungen ist die Zusammenstellung jenes Wissens, das über das Verhalten des Probanden zu früheren Zeiten bekannt geworden ist. Bei Fahreignungsgutachten ist dies durch das Studium der Inhalte der Führerscheinakte („Vorgeschichte“) zu einem Teil möglich.
          Zur Vorgeschichte von Herrn B. wurde eine Reihe von Informationen in der Führerscheinakte gefunden:
          Herr B. ist zum Zeitpunkt der Untersuchung ein 24-jähriger Mann, gelernter Automechaniker, der als Rennmechaniker im Bereich des Motorsports arbeitet. Herr B. ist alleinstehend und beruflich viel unterwegs, da die Einsatzorte weit auseinander liegen.
          Der Führerscheinakte sind folgende relevante Daten zu entnehmen:
          Im Jahre 1997 übertrat Herr B. mit seinem PKW die erlaubte Geschwindigkeit von 100 km/h außerhalb geschlossener Ortschaften um 33 km/h. Für diese Überschreitung wurde eine Geldbuße von DM 150.- verhängt, zudem erfolgte ein Eintrag von 3 Punkten ins Verkehrszentralregister Flensburg.
          1998 überschritt Herr B. die zulässige Höchstgeschwindigkeit um 35 km/h innerhalb geschlossener Ortschaften. Zu einer Geldbuße von DM 200.-  und dem Eintrag von 3 Punkten wurde ein einmonatiges Fahrverbot verhängt.
          1999 bekam Herr B. für die Unterschreitung des Mindestabstandes (statt in diesem Fall vorgeschriebener 67 m nur 19 m Abstand!) einen Eintrag von 4 Punkten; zudem wurde eine Geldbuße von DM 200.- verhängt.
          Eine weitere Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit ließ sich Herr B. 2000 zu Schulden kommen. In diesem Fall betrug die Überschreitung 53 km/h relativ zur vorgeschriebenen Geschwindigkeit von 80 km/h. (=133 km/h). Wegen wiederholter einschlägiger Zuwiderhandlungen erhöhte sich die Strafe diesmal auf DM 600.-, zusätzlich zu einem Monat Fahrverbot und dem Eintrag von 4 Punkten.
          Herr B.s „Kontostand“ beim Kraftfahrt-Bundesamt erreichte zu diesem Zeitpunkt einen Wert von 14 Punkten, woraufhin die Führerscheinbehörde K. eine Überprüfung der theoretischen Kenntnisse zur Führung von Kraftfahrzeugen anordnete. Die Prüfung wurde im Oktober 2000 beim TÜV K. mit einem positiven Ergebnis abgelegt.
          Bereits wenige Monate nach dem letzten Delikt ist Herr B. beim vorsätzlichen Fahren ohne Fahrerlaubnis (bestehendes Fahrverbot) in Tateinheit mit vorsätzlichem Gebrauch eines Fahrzeugs ohne Versicherungsschutz von zwei Polizeibeamten gestoppt worden. Für dieses Vergehen wurde Herr B. mit einer Geldstrafe von DM 800.-, einem Monat Fahrverbot und 6 Punkten Eintrag ins Zentralregister bestraft.
          Durch die dann erreichte Gesamtsumme von 20 Punkten in der Akte des Kraftfahrt-Bundesamts sah sich das Landratsamt K. dazu veranlasst, ein Fahreignungsgutachten über Herrn B. zu beantragen.
          Herr B. unterzog sich beim TÜV S. einer MPU, die zu einem negativen Ergebnis kam. Die Rechtsanwälte des Herrn B. beantragten daraufhin die Erstellung eines Obergutachtens mit der Begründung, dass das vorliegende TÜV-Gutachten nicht ausreichend auf die Persönlichkeit ihres Mandanten eingegangen, und zudem die Fragestellung nicht ausreichend bearbeitet worden sei.
          Die Oberbegutachtung hatte diese Kritik zu beherzigen, musste also intensiver auf den „persönlichkeitspsychologischen“ Teil der Fragestellung eingehen.
          Wie sollte ein handlungstheoretisch geschulter Psychologe an diesen Fall herangehen?


      [Quelle]

      Interpretation der Vorgeschichte des Herrn B. im Sinne einer handlungspsychologischen Urteilsbildung

      Im Folgenden wird diese Hypothesenbildung im Falle des Herrn B. wörtlich wiedergegeben, so, wie sie dann tatsächlich im Gutachten Eingang gefunden hat [FN26: Zu beachten ist, dass das Gutachten an eine Behörde als Empfänger gegangen ist, nicht an eine Forschungseinrichtung oder an Fachkollegen. Deshalb, und das verlangt die Behörde so, musste es in „verständlicher“, also alltagsnaher Sprache ausgedrückt werden.]. [>156]

      a) Zur Bewusstheit des Fehlverhaltens

      Zunächst gilt es, die Vorgeschichte zu interpretieren, und zwar im Hinblick auf die Aufstellung von Hypothesen über die inkriminierten Verhaltensweisen als Handlungen:
       „Die aktenkundigen Vorfälle zeigen eine offenbar bewusste Missachtung gültiger Normen und Gesetze im Straßenverkehr. Problematisch ist hier weniger die Tatsache, dass in drei Jahren fünf einschlägige Vorfälle bekannt geworden sind, sondern eher, dass die Zuwiderhandlungen von gravierender Art gewesen sind. Immerhin betragen die Geschwindigkeitsüberschreitungen zwischen 33 und 53 km/h! Der Exploration zu diesen Vorfällen aus Anlass der Voruntersuchung durch den TÜV ist zu entnehmen, dass die Übertretungen in der Tat bewusst begangen worden sind.“

      b) Reflektiertheit des Verhaltens/ Reflexionsfähigkeit des Probanden

      „Den Unterlagen ist auch zu entnehmen, dass in früheren Jahren bereits Fahrverbote verhängt worden sind. Das aber bedeutet, dass Herr B. aus schwerwiegenden Konsequenzen auf Fehlverhalten (zunächst) offenbar nichts gelernt, sich offensichtlich mit seinem Verhalten nicht selbstkritisch ausein-andergesetzt hat. Diese selbstkritische Auseinandersetzung fehlt bis heute, meint  jedenfalls  der  Gutachter des TÜV,  wenn auch keine Verdeckungstendenzen zu beobachten seien, sondern das eigene Verhalten freimütig geschildert werde.“

      c) Einsicht in die eigene Handlungskompetenz

      „Es ist demnach zu überprüfen, ob Herrn B. mittlerweile klar geworden ist, dass er bewusste Zuwiderhandlungen nicht nur vermeiden muss, sondern auch vermeiden kann, was voraussetzt, dass er die motivationalen Hintergründe für sein Fehlverhalten erkannt hat. Ferner ist zu ermitteln, ob er Vorkehrungen getroffen hat, die zukünftig solche Zuwiderhandlungen ausschließen.“

      d) Sprachniveau

      Die Rekonstruktion seines Lebenslaufes in der biografisch gehaltenen Exploration zeigte auf, wie bei Herrn B. entstanden sein könnte, was in der Sprache der Handlungspsychologie als handlungsleitende Orientierungen einer Person bezeichnet wird. Die Interpretation des biografischen Interviews zeigt zunächst einmal, wie und in welchen Sprachformen und -formeln Herr B. sich selbst darstellt, und inwieweit sie geeignet sind, ihm einen Zugang zu den eigenen Handlungsmotiven zu erlauben:

      „Rekapituliert man das vorliegende Gespräch, fällt einem zunächst das Sprach- und Darstellungsniveau des Probanden ins Auge. Wir haben schon eingangs beschrieben, dass Herr B. eine eher auf Konkretes bezogene Sprache benutzt und zur eigenen Person sowie zu eigenen Ideen, Überlegungen und Schlußfolgerungen außerhalb des beruflichen Bereiches nur schwer Stellung nehmen kann. Überlegungen, die sich auf Handlungsmotive, Einsichten oder Vorsätze beziehen, und die er sicherlich anstellt, müssen aus seinen Ausführungen herausinterpretiert und dann in gemeinsamen Bemühungen zwischen Proband und Gut[>157]achtern formuliert werden. Dies ist hier deshalb festzulegen, weil auf diese Weise nur schwer zu kontrollieren ist, was des Probanden ureigenste Ansichten sind, und  was Ergebnisse, die ihm durch Fragen und Interpretationsbemühungen der Gutachter nahegelegt werden.“

      e) Fähigkeit zur Selbstanalyse

      „Er hat Mühe damit, über sein Verhalten im Straßenverkehr rekonstruierend Bilanz zu ziehen und vorausblickend mögliche Entwicklungen vorherzusehen. Es ist anhand des Gespräches nicht gut möglich zu entscheiden, ob diese Art der eingeschränkten Reflexion lediglich ein Sprachproblem oder ein Problem mangelnder Einsicht in die Belange der eigenen Person darstellt. Wahrscheinlich ist, dass hier eine Interaktion beider Probleme vorliegt.“

      f) Dialogfähigkeit / Wahrhaftigkeit

      „Die Besonderheiten des Gesprächs verweisen auf das Problem der Offenheit im Gespräch. Es entsteht sehr bald der Eindruck, dass der Proband bemüht ist, alle Äußerungen genau zu überdenken hinsichtlich ihrer Wirkung bei den Gutachtern. Also dürften Überlegungen angestellt worden sein, welche Äußerung ihm zum Nachteil und welche ihm zum Vorteil gereichen würden. Unter dieser Bedingung sind aber keine wirklich offenen, ungeschminkten Antworten zu erwarten, bei denen man davon ausgehen kann, dass der Befragte eben das meint, was er sagt. Andererseits muß man auch konstatieren, dass Herr B. freimütig in dem Sinne antwortet, dass er zu früherem Fehlverhalten steht und es nicht zu leugnen oder mit irgendwelchen bagatellisierenden Konstruktionen zu erklären versucht.“

      g) Hypothesenbildung über Handlungs- und Lebensorientierungen und ihre Entstehungszusammenhänge

      Die Lebensgeschichte, die Herr B. entwickelt (wobei hier „Geschichte“ wörtlich zu nehmen ist), führt zu einer Reihe von Einsichten in seine „innere Welt“, in die Welt seiner Vorlieben und Werte, seiner Interessen und Ziele. Nahe an den biografischen Aussagen bleibend, stellt der Gutachter die folgenden Hypothesen über zentrale Handlungs- und Lebensorientierungen des Probanden und seine Entstehungszusammenhänge auf:

      „Das Interesse an allem, was Motoren hat, scheint sich bei ihm mittlerweile geradezu zu einer Manie entwickelt zu haben, die seine gesamte Lebensführung bestimmt. Das kann man deswegen so eindeutig ausdrücken, weil er selbst viel Zeit im Gespräch darauf verwendet, die Auswirkungen seines starken praktischen und emotionalen Engagements in seinem technischen Beruf darzulegen (die Hälfte des Jahres in der ganzen Welt unterwegs; viele notwendige Fahrten; zwei Wohnungen; unregelmäßige Arbeitszeit usw.). Das sehr starke Interesse für Autos mündet bei ihm in einer zeitweiligen „Workaholic“-Existenz. Autos bedeuten ihm das Leben, und so verhält er sich auch, wie er selbst schildert. Er scheint in der Tat ein sehr begabter Mechaniker zu sein, sonst hätte er in seinem Alter nicht bereits die Stellung erreicht, die er nun innehat. Also paaren sich bei Herrn B. die Interessenlage einerseits und die Fähigkeiten andererseits in einer (für den Beruf) idealen Weise. Nachteil dieser Situation ist die recht einseitige Ausrichtung des ganzen Lebens. Alle Interessen oder „Hobbys“, die er anführt, sind bewegungsorientiert. Sein Leben ist buchstäblich „unruhig“, so unruhig, wie er sich selbst als Person auch empfindet. Er sagt ja selbst, dass er nicht still sitzen kann. Es gibt entsprechend viele Stellen im Gespräch, die den Eindruck erwecken, man habe es bei Herrn B. mit einem rastlosen Unruhegeist zu tun. Nachteil ist deswegen auch, dass bei einer solchen Persönlichkeit das Innehalten und Reflektieren (über die eigene Person) zu kurz kommt.“

      Und:

      „Herr B. ist sich selbst gewiss, ein technisch gesehen,  guter Autofahrer zu sein, der sein Fahrzeug, im Gegensatz zu vielen anderen Menschen, auch in kritischen Situationen beherrscht. Dass dieses subjektive Sicherheitsgefühl ein möglicher Grund für sein geschwindigkeitsbetontes Verhalten im Straßenverkehr gewesen sein könnte, wird von ihm nicht formuliert.“

      h) Ansatzpunkte zur Änderung von Handlungsorientierungen

      „Selbstverständlich kann Herr B. auch durchaus „richtige“ Einstellungen, Überzeugungen und Einsichten formulieren. So wird in einer längeren Gesprächspassage klar, dass Herr B. im Verkehr Fairness über Erfolg zu stellen bereit ist, dass er ferner erkannt hat, dass man schnelles Fortkommen nicht erzwingen kann und stattdessen auf „Mitschwimmen“ setzen sollte. Vielleicht hat er auch Recht in seiner Meinung, dass das Schnellfahren in Situationen geschah, die noch relativ wenig riskant gewesen sind. Es ist ihm auch abzunehmen, dass er in den letzten Monaten verstärkt darauf geachtet hat, Gebote und Verbote im Straßenverkehr zu berücksichtigen und einzuhalten. Er ist sich selbst aber auch unsicher darüber, ob diese neue Haltung zukunftsfähig ist. Er weiß nämlich nicht, wie man es macht, die eigenen Vorsätze gegen situative 'Verführungssituationen' zu wappnen. Auch das wird von ihm ausdrücklich als sein Problem anerkannt.“

      Als handelnde Person zeigt Herr B. demnach ein Manko auf, das man bei vielen verkehrsauffälligen Kraftfahrern antrifft: Der Mangel an selbstreflexiv-selbstkritischen Überlegungen. Eine von handlungspsychologischen Überlegungen geleitete Beschäftigung mit Menschen hat das Interesse (und das konkrete Ziel), diesen Mangel so weit wie möglich zu beseitigen.

      i) Überlegungen zum Wertesystem des Probanden

      Der Gutachter stellt natürlich auch Überlegungen an, wie die Fahrerlaubnis in das Ziel- und Wertesystem des Probanden eingebaut ist. Das zu wissen ist wichtig, um die Chancen und Grenzen wahrhaftigen Redens beim Probanden einzuschätzen. Im vorliegenden Gutachten wurde dazu folgendes festgestellt:

      „Der Erhalt der Fahrerlaubnis hat für ihn primäre Bedeutung, was in seiner Situation nur allzu verständlich ist. Seine Lebensgrundlage hängt von dieser Fahrerlaubnis ab. Auch diese Tatsache führt natürlich zu der kritischen Frage, warum sich Herr B. nicht schon ernsthafter um eine dauerhafte Einstellungs- und Verhaltensänderung gekümmert hat. In dem vorliegenden Gespräch jedenfalls sind solche Bemühungen nicht zu erkennen.“

      j) Schlussfolgerungen in Bezug auf die Ausgangsfragestellung

      Eine für den Gutachter sehr interessante, aber auch zeitaufwändige und schwierige Aufgabe ist es, die über die geschilderten Stationen der handlungstheoretisch orientierten Begutachtung hinweg erreichten Einschätzung der Persönlichkeit des Herrn B. als einer handelnden Person in ein kurzgefasstes System handlungspsychologischer Aussagen zu übersetzen und auf die Ausgangsfragestellung zu beziehen.
      Sehr kurz gefasst hat dies das Obergutachten am Ende der Stellungnahme in der folgenden Weise getan:

      „Es besteht bei Herrn B., schon aus Sorge um die berufliche Existenz, der Vorsatz, zukünftig verkehrsrechtliche Bestimmungen einzuhalten und riskantes und regelwidriges Verhalten zu vermeiden. Allerdings dürfte dieser Vorsatz nur kurz- und mittelfristig tragfähig sein. Da Herr B. keine Einsicht in die psychischen Entstehungszusammenhänge seines verkehrsbezogenen Fehlverhaltens hat, da er Vorkehrungen zur Abwehr möglicher Rückfallgefahren nicht kennt und zudem eine stärker impulsiv handelnde, Handlungskonsequenzen nicht immer bedenkende Persönlichkeit ist, sind längerfristig gesehen weitere Zuwiderhandlungen nicht mit der nötigen Sicherheit auszuschließen. Zur längerfristigen Absicherung regelkonformen Verhaltens sind therapeutische Maßnahmen zur Förderung der Handlungskontrolle und Handlungsbewußtheit (Reflektiertheit) notwendig.“

      Die zuständige Verkehrsbehörde hat sich die Empfehlungen des Obergutachters zueigen gemacht. Die Wiedererlangung der Fahreignung war für Herrn B. ein längerer und mühsamer Weg.

      Vorgehensweisen und Überlegungen wie die hier vorgetragenen sind nicht unüblich im Prozess verkehrspsychologischer Gutachtenerstellung. Allerdings muss man sich als Psychologe bewusst sein, dass der Wunsch der Behörde nach einer sicheren Prognose zukünftigen Handelns des verkehrsauffälligen Autofahrers letztlich aus methodischen Gründen so nicht erfüllbar ist. Wir hatten ja gesehen, dass menschliches Handeln nicht kausalanalytisch im Sinne einer naturwissenschaftlichen Erklärung (wie im H-O-Schema dargestellt) betrachtet werden kann.

      Es ist aber sicherlich hilfreich, die handlungspsychologischen Elemente in der Begutachtungsstrategie offenzulegen und damit dem systematischen Einsatz als Aspekte auch der Beratung des Kraftfahrers zugänglich zu machen. Auf diese Weise nämlich bekommt der Verkehrsauffällige die Gelegenheit, sein eigenes Verhalten besser zu verstehen und es seiner zukünftigen Handlungsplanung besser zugänglich zu machen. So gesehen kann man eher als vorher darauf vertrauen, dass der Betroffene zukünftig anders handeln wird als zuvor. [>158]

      11.4 Ausblick

      Die Falldarstellung aus dem Bereich der verkehrspsychologischen Begutachtung, insbesondere der Ausgang dieses „Falles“ zeigt, dass auch im Berufsfeld der Verkehrspsychologie ein Bedarf an Beratungsangeboten gegeben ist, welche sich auf handlungspsychologische Überlegungen stützen.
          Eine handlungspsychologisch orientierte Beratung im Kontext der Verkehrspsychologie hätte unter anderem die Aufgabe, emotionale/affektuelle Anteile verkehrsbezogenen Verhaltens von jenen an rationalem Handeln zu unterscheiden und im individuellen Fall das Vorliegen beider aufzuzeigen. Ziel wäre es, den rationalen Anteil zu stärken und dem emotionalen/affektuellen Anteil bewusst zu machen und so stärker einer Kontrolle zu unterziehen. Die in Teil I, Kap. 2 getroffene Unterscheidung von Ursachen, Motiven (Beweggründen) und Gründen (Vernunftgründen) mag bei diesem Vorhaben eine leicht fassbare Richtschnur sein.
          Außerdem wäre zu fragen, welche Rolle die soziale Umwelt der Fahrer in der Ausbildung der emotionalen und rationalen Dimensionen der Mobilität der Ratsuchenden spielt.
          Fasst man Mobilitätsverhalten im Rahmen handlungspsychologischer Sichtweisen als zweckrationales Handeln auf, erscheint eine Beratung über die von den Ratsuchenden verfolgten (Mobilitäts-)Ziele und über die Rationalität der von ihnen realisierten Mittelwahlen sinnvoll. Bieten die in der Beratung aufgedeckten Mittel-Ziel-Relationen das Bild „vernünftiger“ Handlungsorientierungen in dem Sinne, dass Mittel und Ziele in einer adäquaten Beziehung zueinander stehen, die eingesetzten Mittel erfolgversprechend sind und den noch vorhandenen Ressourcen der Person (auch in einem ökonomischen Sinne) entsprechen? Auch in die Aufklärung über mögliche unerwünschte Nebenfolgen der gewählten Mobilitätsmittel könnte die Beratung eintreten.

      Ein besonderer Beratungsbedarf kündigt sich für die Zukunft an, in der der Anteil älterer Menschen am Straßenverkehr, auch am motorisierten, noch deutlich wachsen wird. Darauf geht unter anderem das folgende Kapitel ein."
       


    Aus Kapitel 15: Resümée
    (S. 194ff)

      "15.1  Der Mensch als Gegenstand der Psychologie

      Das vorliegende Buch schildert, wie handlungspsychologisch orientierte Wissenschaftler über den Menschen als ihren Forschungsgegenstand denken und welches Vorgehen diesem Denken angemessen ist. Wir haben versucht, bei der Darstellung der verschiedenen Aspekte der Handlungstheorie immer wieder auch die historische Perspektive aufzurufen. Bleiben wir in diesem Nachwort noch einmal dabei.
          Die handlungstheoretische Konzeption ist Kind einer spezifischen gesellschaftlichen Situation im Deutschland der 1970er Jahre und der spezifischen Lage der wissenschaftlichen Psychologie in dieser Zeit, wie wir gesehen haben. Die Situation damals war gekennzeichnet durch die Diskussion um die „Krise der Psychologie“. Es ist vor allem die Experimentelle Psychologie und ihr wissenschaftstheoretischer Hintergrund (ihre Orientierung an naturwissenschaftlicher Psychologie) gewesen, die vor etwa vierzig Jahren die Krise ausgelöst und die „Kritische Psychologie“ auf den Plan gerufen haben. Nach einer recht unbedarften Übernahme von Tendenzen aus der amerikanischen Psychologie nach dem Zweiten Weltkrieg mehrten sich die Stimmen, die die Rationalität der Entscheidung für eine quantifizierende, experimentelle und nomothetische (oder „szientistische“) Psychologie genauer überprüfen wollten. Die „Kritische Psychologie“ wiederum war sicher ein Impetus, die Handlungspsychologie voranzutreiben.
          Versuchen wir rückblickend eine kurze zusammenfassende Rekonstruktion jener Vorgänge, die zum Erstarken handlungstheoretischen Denkens in der Psychologie geführt haben:
          Die Vorstellung, was überhaupt als Wissenschaft zu akzeptieren sei, unterliegt nicht weniger historischem Wandel, als das Denken über die Welt ganz allgemein. Was die Psychologie angeht, so geriet sie in den Sog einer einheitswissenschaftlichen Vorstellung. Es waren wohl die Erfolge der modernen Naturwissenschaften, die zu beweisen schienen, dass die Welt dem Menschen verfügbarer würde, wenn man nach überindividuellen und ahistorischen Universalisierungen suchte, zu denen experimentelle Methoden führten, in denen sich der Mensch als Erkenntnissubjekt einem zu erkennenden Objekt gegenüberstellt.
          Die kritische Rekonstruktion der Geschichte der Psychologie war in diesem Zusammenhang unter anderem ausgerichtet auf jene Vorstellungen, die die führenden amerikanischen Psychologen (und zugleich führenden Vertreter des Behaviorismus) über die „richtige“ Form des psychologischen Forschens vertreten hatten, die sie der naturwissenschaftlichen Forschung entlehnten. Das wirft natürlich die Frage auf, wie dann eine psychologische Praxis, die Anwendung psychologischer Erkenntnisse also, aussehen würde.
          Besonders deutlich wurde, wie wir gesehen haben, diesbezüglich J.B. Watson, der „Vater“ des Behaviorismus. In Watsons Werk Behaviorismus (1924; in deutscher Fassung 1968) ist zu erkennen, dass es ihm um eine Psychologie als ein Machtin[>195]strument in der Gesellschaft geht. Watson zeichnet eine Subjekt-Objekt-Beziehung, in der der Psychologe das aktive Subjektiv, sein „Untersuchungsgegenstand“, der (andere) Mensch dagegen das kontrollierbare, beherrschbare Objekt darstellt. Dies belegende herausragende Veröffentlichungen sind heute noch zugänglich, etwa B.F. Skinners Walden Two oder Jenseits von Freiheit und Würde. In ihnen ist zu erkennen, dass die gesellschaftliche Nutzung psychologischer Erkenntnisse auf Basis des behavioristischen Wissenschaftsverständnisses in eine Gesellschaft führen dürfte, der totalitäre Züge nicht abzusprechen sind (s. dazu ausführlicher: Straub 2010a).
          Deswegen war es uns wichtig zu zeigen, dass die in diesem Buch entfaltete Handlungspsychologie weder das Menschenbild des Behaviorismus teilt, noch dessen Sicht der Beziehungen der Menschen zueinander unterstützt, wenn sie „praktisch“ wird, wenn sie zur Grundlage einer Anwendungspraxis wird.
          Ein Weg, einem Wissenschaftsverständnis mit totalitären Zügen zu entgehen, war die Wiederbelebung der Erkenntnis, dass eine in diesem Sinne „einheitswissenschaftliche“ Psychologie eine Verdoppelung der psychologischen Realität vorsieht, von der wir berichtet haben. In dieser Realität fristet der Mensch seine Existenz als ein Objekt der Einflüsse unterschiedlicher Kräfte, seien sie der Umwelt oder auch einer „Innenwelt“ zuzuordnen. Diese Einflüsse und ihre Konsequenzen beim Menschen untersucht der forschende Psychologe von einem als objektiv angenommenen Außenstandpunkt. Dabei wird übersehen, dass eine Psychologie von einem solchen Objektstandpunkt aus dem Menschen das abspricht, was den Forscher gerade kennzeichnet: bestimmte (subjektive) Interessen, eigene Erfahrungen, Motive, Ideen, Erwartungen, Entscheidungen etc.
          Wenn man aber annimmt, dass sich der Mensch als Gegenstand der wissenschaftlichen Psychologie prinzipiell nicht unterscheidet von jenem Menschen, der Psychologie betreibt, dann liegt doch eine ganz bestimmte Frage nahe: Sollte nicht besser psychologische Forschung konsequent vom Standpunkt des Subjekts selbst betrieben werden? Genau diese Frage hat Holzkamp (1983a; b) gestellt und positiv beantwortet. Er hat gefordert, dass sich die Psychologie von einer Objektwissenschaft zu einer Subjektwissenschaft zu wandeln habe, was auch bedeutet, sich bewusst als Gegenpart einer „Kontrollwissenschaft“ Psychologie zu etablieren (Holzkamp 1983 b; s. auch: Maiers & Markard 1987).
          Holzkamp hat keinen Zweifel daran gelassen, dass er in diesem Kontext eine „sinndeutende“ oder „verstehende“ Psychologie für notwendig hält, auch wenn er sich damit der Gefahr aussetzt, in die als überholt geltende Ecke der alten Erklären-vs.-Verstehen-Debatte gestellt zu werden.
          Psychologie vom Subjektstandpunkt aus: Das bedeutet nach Holzkamp (1994), „die Sichtweisen und Auffassungen der betroffenen Subjekte in der Theoriebildung und Forschung möglichst eingehend und differenziert zur Geltung zu bringen.“ FN31 Dafür stellt das Buch die Grundlagen bereit, dabei mussten wir sehr [>196] grundsätzlich vorgehen. Diese Konsequenz hat auch Holzkamp gezogen. In dem zitierten Vorschlag hat er dazu nämlich gesagt, dass es einer Veränderung der Wissenschaftssprache bedarf, einer anderen „Grundbegrifflichkeit“. Es sind also sehr elementare Schritte zu gehen, um zu einer Psychologie vom Subjektstandpunkt aus zu gelangen. Die handlungspsychologische Grundbegrifflichkeit erzeugt ein Reden über den Menschen, das sich deutlich vom Reden über ihn aus der Position der dritten Person, des Beobachters, unterscheidet. Um mit Holzkamp zu formulieren:
          „Wir haben herausgearbeitet, dass der 'Subjektstandpunkt' nicht nur eine bestimmte Perspektive auf die Realität einschließt, sondern - sofern er sich irgendwie in sprachlicher, also auch wissenschaftssprachlicher Kommunikation artikuliert - auch eine besondere Diskursform“. Statt einen Bedingungsdiskurs zu führen (z.B. welche Variablen haben welchen Einfluss auf das Verhalten eines Menschen gehabt?) treten wir in einen Begründungsdiskurs ein: Welche Handlungen sind aus der Sicht der handelnden Person geboten, vernünftig, sinnvoll gewesen?
          Antworten auf diese Frage zu finden, erfordert aus der Sicht der Psychologie vom Subjektstandpunkt eine aktive Mitarbeit der betroffenen Menschen, also jenen, die in einer „Variablenpsychologie“ die Rolle der Versuchspersonen, der Untersuchungsobjekte spielen. Handlungspsychologie als Subjektpsychologie verändert diese Rolle. Die Menschen werden eher zu Erforschern ihrer selbst, selbstverständlich mit Unterstützung der forschenden Psychologen. Nicht nur die Diskursform verändert sich also, sondern auch die soziale Beziehung zwischen „Forschern“ und „Erforschten“. Wir haben dies mit unserem Hinweis auf das Konzept der Sozialwissenschaften als Dialog näher zu beschreiben versucht. Wenn wir einmal die schon bei Aristoteles in seiner Nikomachischen Ethik auftauchende Unterscheidung von „poiesis“ (Herstellung, Hervorbringung) und „praxis“ (Lebensführung; tätiger, auch symbolisch-kommunikativer Umgang mit anderen Menschen) FN32  bemühen wollen: Während die zitierte, experimentell begründete Variablen- oder Kontrollpsychologie als herstellungsorientierte Psychologie bezeichnet werden kann (Ziel: Herstellung bestimmter Bedingungen zur Erzeugung und Kontrolle bestimmter psychischer oder Verhaltenseffekte), begreifen wir die Handlungspsychologie als umgangsorientiert: Ihre Erkenntnisse sollen mithelfen, den Umgang der Menschen miteinander zu verbessern.
          Wir denken, dass eine solche Psychologie Mittel bereitstellt, dass Menschen lernen, sich selbst als Akteure in dieser Welt besser zu verstehen. In einer Demokratie, in der die Staatsgewalt vom Volk ausgehen soll, ist eine solche Entwicklung der Bürger existentiell. Wer „Wir sind das Volk!“ ruft, möchte an den zentralen Entscheidungen eines Staates mitwirken. Das aber setzt voraus, dass die Akteure Einblick gewinnen in die psychischen Grundlagen ihrer eigenen individuellen Entscheidungen. Ein demokratisches Staatswesen ist sicherlich vernünftig, und [>197] die Förderung der Vernunft seiner Mitglieder ist ein wichtiges und hohes Ziel. Holzkamp (1983a) hat von „verallgemeinerter Handlungsfähigkeit“ gesprochen, womit ein kollektives vernünftiges Handeln zum Wohle aller bezeichnet werden sollte. Psychologie als Subjektwissenschaft könnte mithelfen, dieses Ziel zu erreichen.
      ..."

      Sehr schön wird das Definitionsproblem dargestellt (S. 198ff):

      "15.2.2   Erste Theoriebildungs-Schritte

      Die Theoriebildung beginnt nun praktisch bei einer Auswahl des betrachteten Lebensbereiches, auf den wir unsere Theorie beziehen wollen. Man kann auch so sagen: Dieser Schritt dient der Festlegung des Geltungsbereiches der Theorie.
          Wir denken, dass wir jene Bereiche als Geltungsbereiche auswählen sollten, in denen erklärungsbedürftige oder „problematische“ Phänomene beobachtet werden (d.h.: wir verstehen etwas im Verhalten von Menschen nicht oder halten etwas für ein Problem der Lebensführung, des Zusammenlebens etc.). Schließlich können wir die Psychologie durchaus zu den praxisorientierten Wissenschaften rechnen.
          Wir nähern uns dem ausgewählten Bereich und dem dort hervorgehobenen zu erklärenden Phänomen zunächst beschreibend. Das Phänomen, der Gegenstand der Theoriebildung also, soll möglichst so dargestellt werden, dass es von jedermann erkannt oder wiedererkannt werden kann. Zur Beschreibung des Phänomens benötigen wir Beschreibungsmittel. Die stellt uns unsere Sprache mit ihren Wörtern zur Verfügung. Das aber ist nicht so unproblematisch, wie es sich anhört. Im Unterschied zur „naiven“ Theoriebildung müssen wir unsere Beschreibungsmittel auf Verständigung und Konsensbildung auslegen. Unsere Aussagen über unseren Gegenstand sollen ja später als „wahr“ akzeptiert werden. Deswegen betreiben wir Begriffsbildung. Die sieht die Angabe spezifischer Bedeutungen für die Wörter vor, die im Rahmen der Theorie zur Beschreibung und Erklärung der Sachverhalte benutzt werden sollen. Das heißt, wir legen eine spezifische Terminologie fest.
          Aber Vorsicht: Wir müssen beachten, dass unsere wissenschaftliche Sprache letztlich auf der Alltagssprache aufbaut! Wir müssen also die Bedeutung der von uns benutzten Wörter sehr kritisch hinterfragen und ggf. neue Bedeutungen verabreden oder auch neue Wörter erfinden.
          Zur Festlegung der Terminologie gehört die Aufstellung von Definitionen für die beschriebenen Sachverhalte. Zumindest drei Arten von Definitionen werden üblicherweise unterschieden:
      a) Nominaldefinitionen
      b) Realdefinitionen
      c) Verknüpfung von Beobachtungsaussagen mit theoretischen Begriffen.

       
      Genaueres zu den Arten von Definitionen 

      a: Nominaldefinitionen
      Ein sprachlicher Ausdruck wird durch einen anderen (präziseren) ersetzt. (Wortersetzung)

      b: Realdefinitionen
      Bedeutungsanalyse
      Angaben über die Regeln der Anwendung eines Begriffes (also Angabe sprachlogischer Beziehungen) 
      Empirische Analyse
      Angaben über die Verwendung eines Begriffes aufgrund von Beobachtungen 
      Explikation 
      Einführung verschiedener präziser Ausdrücke als Ersatz für einen sonst eher vagen Ausdruck

      c: Zuordnungregeln zwischen theoretischen und beobachtungssprachlichen Begriffen
      Einführung eines Begriffes mithilfe einer Herstellungsvorschrift (wird in der Literatur häufig, vielleicht etwas missverständlich, als „operationale“ Definition bezeichnet; Einführung eines Begriffes mithilfe beobachtungssprachlicher Ausdrücke)

      Wir haben dann mit der definitorischen Festlegung zentraler Begriffe unseres Gegenstandsbereiches so etwas wie die Bausteine unserer Theoriebildung geschaffen.

      15.2.3  Zum Begriff der Theorie

      Aber halt: Was sind eigentlich „Theorien“? Auch das ist ein Begriff, der terminologisch geregelt sein sollte. Theorien sind (zur Hauptsache, aber nicht nur) Aussagensysteme über die Elemente des Gegenstandsbereiches, die in beschreibender und erklärender Absicht geschaffen wurden. Sie enthalten Angaben über die Beziehung der einzelnen Aussagen untereinander (beispielsweise Wenn-Dann-Beziehungen, Ursachen und Wirkungen oder Verweisungen von einen zu anderen Aussagen). [>200]

          Wir müssen uns zunächst überlegen, welche der in der Theorie vorgesehenen Beziehungen als empirische Beziehungen (und damit in ihrer Geltung erfahrungswissenschaftlich prüfbar) ausgezeichnet werden sollen. Es gibt ja auch Beziehungen zwischen den Termini einer Theorie, die lediglich sprachlogischer Art sind, etwa: „Ein Schiedsrichter nimmt eine neutrale Position ein“. Na klar, tut er es nicht, können wir ihn nicht Schiedsrichter nennen.
          Wir favorisieren in der Regel empirische Theorien. Empirische Theorien müssen in ihren Aussagen über die Wirklichkeit anhand von Erfahrungstatsachen überprüfbar sein.
          Was genau wird mithilfe unserer Terminologie im Rahmen unserer Theorie geschaffen? Wir sollten diese Erzeugnisse „Konstrukte“ nennen. Dies liegt an unserem Gegenstandsbereich: menschliches Verhalten bzw. Handeln. Eine nähere Erläuterung ist an dieser Stelle nötig:
          Unsere psychologischen Begriffe im Alltag und - wie wir bei der Darstellung der Handlungspsychologie gesehen haben - auch in der Wissenschaft beziehen sich auf Gegenstände, die nicht direkt beobachtbar sind. Sie sind wie Gegenstände in einem Raum, aber den Raum können wir nicht einfach betreten und die Gegenstände ansehen und anfassen. Wir können zwar auch über uns derart „verschlossene“ Gegenstände reden, aber die Realität unseres Redens nicht in der Weise überprüfen wie ein Tischler, der einen Schlüssel zum Raum besitzt, die Gegenstände in seine Werkstatt holt und sie dort im Schein seiner Lampen betrachten kann. Der von uns in den Blick genommene Raum ist die subjektive Welt der untersuchten Person. Sie ist gewissermaßen der Tischler, der Zugang zu den Gegenständen im Raum hat. Über ihre Funde kann sie mit uns reden.
          Mit diesem Dialog über die verschlossenen, gewissermaßen „in“ einer Person liegenden Gegenstände, die wir Handlungsorientierungen einer Person genannt haben, konstruieren wir eine „innere“ Welt des Menschen, und also nennen wir die Gegenstände unseres Reden zu Recht „Konstrukte“. Es sind genau genommen Interpretationskonstrukte, von denen wir annehmen, dass sie erfassen, was realiter das Handeln einer Person anleitet, was sich uns aber nur in der Art von Anzeichen oder Symptomen offenbart [FN33: Zu Handlung als Interpretationskonstrukte siehe im Einzelnen Groeben 1986, S. 176 ff] Im besten Falle gelingt es uns, im Dialog mit der Person den Interpretationkonstrukten namens Handlungsorientierungen gültigen Ausdruck zu geben. Ist uns die Möglichkeit des Dialogs nicht gegeben, was in den Naturwissenschaften beispielsweise der Fall ist (Atome reden üblicherweise nicht), müssen wir uns also allein an Anzeichen oder Symptomen für das jeweils interessierende Konstrukt orientieren, nennen wir das Konstrukt „hypothetisch“ oder auch „theoretisch“.
          Hauptbestandteil unseres Aussagensystems „Theorie“ sind in unserem Falle in der Regel explikative Aussagen für die gestifteten Beziehungen. Das heißt: Die Handlungspsychologie stellt die Erklärung in der Vordergrund. Es gibt auch Theorien, die eher der Beschreibung von Sachverhalten dienen. [>201]
          Das handelt uns die nächste Frage ein: Was ist eine Erklärung? Diese Frage wird meist mit Verweis auf das subsumtionstheoretische (deduktiv-nomologische) Erklärungsmodell nach Hempel & Oppenheim beantwortet (vgl. Kap. 4). Deduktiv-nomologische und induktiv-statistische Erklärungen genügen formalen Kriterien, lassen aber (übrigens auch in den Naturwissenschaften) ein Unbehagen zurück:
          Ein Phänomen formal erklärt zu haben, heißt noch nicht unbedingt, es auch verstanden zu haben.
          Ein Verstehen im Bereich der Psychologie, und dort bezogen auf menschliches Handeln, ist am ehesten erreicht durch Verweis auf jene Orientierungen oder „Argumente“, die ein Handelnder in seinen Handlungen, in der Wahl der alternativen möglichen Verhaltensweisen, beachtet hat. Es sind, da dieser Verweis sich auf Wahl- und Entscheidungssituationen bezieht, intentionale Erklärungen, etwa durch Nennung eines Zieles, dessen Herbeiführung durch die Handlung intendiert wurde. Das ist doch wohl das Besondere des Verhaltens von Menschen gegenüber dem anderer Lebewesen!
          Die Erfahrung dieser Besonderheit des Menschen gegenüber Fröschen und Pfannkuchen ist der Grund, warum wir zum Zwecke der verständlichen Beschreibung und plausiblen Erklärung menschlichen Verhaltens und Erlebens durch Handlungspsychologie in der Regel bestimmte Reflexionen und Argumentationen (beispielsweise Absichten) hinzukonstruieren. Hier macht es auch Sinn; einem fallenden Stein Absichten zu unterstellen, macht dagegen keinen Sinn, wie man seit Galilei entschieden hat.
          Keine Frage, dass die so konstruierte Theorie bestimmte Gütekriterien erfüllen sollte, wie wir es für alle wissenschaftliche Theorien fordern: z.B. Widerspruchsfreiheit der Aussagen, semantische Einheitlichkeit, Sparsamkeit etc.

      15.2.4 Menschenmodelle

      Übrigens: Theorien sind nicht ausschließlich Aussagesysteme. Sie enthalten als „Kernannahmen“ (Herrmann 1976) auch „metaphysische“, d.h. nicht mit erfahrungswissenschaftlichen Methoden beweis- oder widerlegbare Annahmen. Theo Herrmann hat uns gezeigt, dass in wissenschaftliche Theorien keineswegs nur Aussagen mit hypothetischen Konstrukten und intervenierenden Variablen eingehen, die dann zu theoretischen Systemen miteinander verknüpft werden. Was also führen wissenschaftlich tätige Psychologen in ihre Theoriebildung neben ihrem jeweiligen, ggf. individuell unterschiedlichen kulturellen Hintergrund und den Wörtern der von ihnen benutzten lebensweltlichen Sprache sonst noch als eher selten hinterfragte Prämissen ein?
          Es sind mehr oder weniger komplexe bildhafte, metaphorische oder sonstwie symbolische Modelle von der Welt und ihren Menschen, die wir mitdenken, wenn wir einen Gegenstand unserer Welt, beispielsweise bestimmte menschliche Ver-[>202]haltensweisen, beschreibend und erklärend erfassen. Man spricht von den unterschiedlichen Menschenmodellen und Weltbildern, die in psychologischen Theorien wirksam werden. Menschenmodelle regeln unter anderem den Einsatz der Untersuchungsmethoden. Als unterscheidbare Menschenmodelle kennen wir u.a. das Modell des
       

      • Mechanismus
      • Organismus
      • handelnden Subjekts


      Unser Handlungsmodell setzt sich deutlich ab von unterschiedlichen Maschinenmodellen, die in der Geschichte der Psychologie als Analogien für den menschlichen Organismus gedient haben. Ein erfolgreiches Erklären und Verstehen menschlichen Verhaltens als Handlung soll eine erfolgreiche psychologische Praxis ermöglichen, die in Zusammenarbeit mit den Betroffenen realisiert wird und nicht gegen sie oder mit den Mitteln ihrer Manipulation. In dieser Weise könnte man das Erkenntnisinteresse formulieren, das wir mit dem Aufbau einer Handlungspsychologie verfolgen."
      __
      FN31 In einem Vortrag im Rahmen des Potsdamer Kolloquiums zur Lern- und Lehrforschung am 23. Februar 1994.
      FN32 Siehe z.B. Straub 2010a.
      FN33 Zu Handlung als Interpretationskonstrukte siehe im Einzelnen Groeben 1986, S. 176 ff.
       




    Bewertung:  Ein grundlegendes (Lebens-) Werk zur Handlungspsychologie, in der wissenschaftstheoretische Grundlagen, kritische, kognitive Theorie, humanistische Ethik, die Realität der Praxis, qualitative empirische Forschung  und subjektwissenschaftliche Orientierung sowohl umfassend als auch dicht und überschaubar auf 235 Seiten einschließlich wissenschaftlichem Apparat verständlich aufbereitet und integriert wurden. So gesehen könnte man auch auch von einem wissenschaftlichen Kunstwerk sprechen.
     
    Nachdem die Psychologie im allgemeinen Konsens - 
    auch von den Autoren - als die Wissenschaft vom Erleben und Verhalten angesehen wird, gehört die Handlungspsychologie zum Verhalten, und ist begrenzt 
    auf rationales, d.h. begründbares, bewusst und frei gewähltes Verhalten, das eben Handeln genannt wird. Damit ist die ganze Psychologie und Psychopathologie 
    des Erlebens - das Stichwort, obwohl Grundbegriff, kommt im Sachregister nicht vor - nicht Gegenstand der Handlungspsychologie. Auch nicht intuitives, nicht bewusstes, gewohnheitsmäßiges, reflexartiges, ("halb-") automatisches Verhalten. Obwohl Kommunikation im Beratungsprozess notwendigerweise über das Erleben stattfinden muss, bleibt dieser wichtige Teil ausgespart bzw. auf wenige (zweck-) rationale Teile beschränkt 
    (Erwartung, Ziel, Oberziel, Mittel, Zweck, Zweckrationalität ...). 
    Obwohl die beiden Autoren sicher nicht verdächtig sind, dem Behaviorismus nahe zu stehen, fehlt, wie bei diesem, die Psychologie des Erlebens. Allerdings hat der Handlungsbezug auch große wissenschaftliche Vorteile, weil man vielen subjektiven Nebeln und Unklarheiten entrinnt. 

        Schön wäre für die Zukunft ein eigenes, explizites Kapitel zur idiographischen Wissenschaftstheorie, der Wissenschaft vom Einzelfall. Die Worte Idiographie und Einzelfall haben im Sachregister keinen Eingang gefunden. Zwar werden drei Erklärungsmodelle für Handlungen im Kapitel 4 ausdrücklich behandelt: Deduktiv-nomologische Erklärungen (Hempel-Openheim-Schema: Gesetz, Voraussetzung, Situation, Folgerung), Teleologische Erklärungen (Ziel-Mittel-Beziehungen: A macht B um C zu erreichen) und Narrative Erklärungen (Entstehungsgeschichte, Zusammenhang), aber vielleicht doch noch zu wissenschaftstheorielastig für die Praxis. Die Zirkularitätsscheu, Motive ja nicht durch Handlungen zu evaluieren, kostet einen sehr hohen Preis. Die Ablehnung der Korrespondenztheorie der Wahrheit kommt der Praxis auch nicht sehr entgegen.

    Besondere Bewertung für die forensisch-psycho-pathologische Begutachtung
    In der forensischen Psychiatrie, wie in der rein nomologisch und damit unzulänglich verstandenen Psychologie, werden Menschen überwiegend wie Objekte behandelt. Ob sie mit einer Untersuchung überhaupt einverstanden sind, interessiert niemanden. Selbst ein grundlegender Verfassungsgerichtsbeschluss aus 2001 zur Mitwirkungsbereitschaft wurde von den Standardwerken der forensischen Psychiatrie ignoriert. Wer nicht "freiwillig" mitmacht, über den werden Meinungsachten auf der bloßen Basis von "Akten" verfasst, auch wenn dies in nahezu allen Fällen bei Beweisfragen (besonders zu den §§ 20, 21, 63, 64, 67 StGB) zu gar keinen wissenschaftlich begründbaren Antworten auf die Beweisfragen führen kann, weil die Informationen und Daten zu den Tatzeiträumen fehlen. Differenzierte Verhaltens- und Handlungsmodelle fehlen in der forensischen Psychiatrie völlig.
        Tiefer- und weitergehend muss neben diesem berufs- und wissenschaftstheoretisch außerordentlich fragwürdigen Vorgehen aber die Grundsatzfrage gestellt werden, welche Voraussetzungen überhaupt erforderlich sind und erfüllt sein müssen, damit wir verwertbare, tragfähige und zuverlässige Auskünfte von einem Menschen über sein Erleben und Verhalten, z.B. sein Befinden, Fühlen, Denken, Wollen zu den infragestehenden Tatzeiträumen, wie es der § 20 StGB verlangt, erhalten können? Schon der gesunde Menschenverstand sollte nahelegen, dass dies nur funktionieren kann, wenn eine tragfähige, partnerschaftliche und vertrauende Arbeitsbeziehung hergestellt werden kann, was im forensisch-psycho-pathologischen Bereich nicht selten schwierig und manchmal sogar auch unmöglich ist. In der psychologischen Psychotherapie ist diese grundlegende Einstellung zur Arbeitsbeziehung weitgehend selbstverständlich. Und psychologische Psychotherapeuten lernen und können üblicherweise auch explorieren.
        Die Handlungspsychologie mit ihrem subjektwissenschaftlichen Ansatz liefert hier eine wissenschaftlich fundierte Orientierung (>Prinzipien der Beratungsforschung), die die komplizierte Wechselwirkungsbeziehung zwischen Subjekt und Objekt in der Begegnung durch ausdrückliche Anerkennung und Berücksichtigung überwindet, sondern damit auch humanistischer Ethik entspricht und das Grundrecht der Menschenwürde praktisch achtet.



    Die Autoren
     Heinz Jürgen Kaiser,   Hans Werbik.

     



    Links (Auswahl: beachte) > Querverweise IP-GIPT.
    • Internetseite der Autoren zur Handlungspsychologie.
    • Rezension von Marcus Knaup im Forum qualitative Sozialforschung.
    • Gesellschaft für Kulturpsychologie e.V.
    • Jürgen Straub: Handlung, Interpretation, Kritik.


    Literatur (Auswahl)

    • Informationen über Bücher, Bibliotheken, bibliographische Quellen.






    Glossar, Anmerkungen und Endnoten
    GIPT = General and Integrative Psychotherapy, internationale Bezeichnung für Allgemeine und Integrative Psychotherapie.
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    Bewertung. Bewertungen sind immer subjektiv, daher sind wir in unseren Buchpräsentationen bemüht, möglichst viel durch die AutorInnen selbst sagen zu lassen. Die Kombination Inhaltsverzeichnis und Zusammenfassungen sollte jede kundige oder auch interessierte LeserIn in die Lage versetzen selbst festzustellen, ob sie dieses oder jenes genauer wissen will.  Die BuchpräsentatorIn steht gewöhnlich in keiner Geschäftsbeziehung zu Verlag oder den AutorInnen; falls doch wird dies ausdrücklich vermerkt: Ich habe bei den beiden Autoren studiert und war auch einmal wissenschaftliche Hilfskraft zur Entwicklung sicherer Erwartungen. Bei Prof. Kaiser habe ich zudem an einem Seminar für meine verkehrspsychologische Qualifikation teilgenommen. Die IP-GIPT ist nicht kommerziell ausgerichtet, verlangt und erhält für Buchpräsentationen auch kein Honorar. Meist dürften aber die BuchpräsentatorInnen ein kostenfreies sog. Rezensionsexemplar erhalten. Die IP-GIPT gewinnt durch gute Buchpräsentationen an inhaltlicher Bedeutung und Aufmerksamkeit und für die PräsentatorInnen sind solche Präsentationen auch eine Art Fortbildung - so gesehen haben natürlich alle etwas davon, am meisten, wie wir hoffen Interessenten- und LeserInnen.  Beispiele für Bewertungen: [1,2,3,]
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    Anm. Vorgesehene. Wir präsentieren auch Bücher aus eigenem Bestand, weil wir sie selbst erworben haben oder Verlage sie aus verschiedenen Gründen nicht (mehr) zur Verfügung stellen wollen oder können.
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    Abb. 32 Quelle: Hamburger Abendblatt , unter: https://www.abendblatt.de/multimedia/archive/00499/mpu_HA_Wirtschaft_H_499412c.jpg
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    Explanans ist das, wodurch erklärt wird, die Erklärung, z.B.  a) Max will in seine Wohnung; b) es regnet.
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    Explanandum ist das, was erklärt werden soll, das zu Erklärende, A) z.B. warum macht Max die Tür auf?, B) warum ist die Straße ist naß?
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    Zirkularitätsscheu: Motiv und Handlung
    S. 78 führt aus:
      "Den Rückgriff auf Motive finden wir in der sog. „dispositionellen Erklärung“ (in ihrer Form A). Diese hat folgende Struktur (nach Werbik 1978, S. 33):
       
      Explanans Al: Die Person befindet sich in der Situation S
       A2: Die Person hat das Motiv M
      G: Jede Person, die das Motiv M hat, führt in einer Situation von der Art S die Handlung H aus.
      Explanandum  E: Die Person führt die Handlung H aus.

      Diese Form der Erklärung ist verträglich mit einer kausalen Erklärung, wie wir sie als deduktiv-nomologische Erklärung kennengelernt haben, welche (gesetzesartige) Beziehungen zwischen empirisch überprüfbaren Sachverhalten darstellt.
          Ein zweiter Blick auf dieses dispositionelle Erklärungsschema aber wirft Fragen auf: Wenn die Allgemeinaussage G ein Gesetz wiedergäbe, dann müssten das Motiv M, die Situation S und die Handlung H als unabhängige empirische Tatsachen gelten, was heißt: voneinander unabhängig und eindeutig beobachtbar.
          Es fragt sich hier allerdings, woher wir wissen, dass die Person das Motiv M hat? Üblicherweise schließen wir das Vorhandensein eines bestimmten Motivs aus dem Auftreten bestimmter Handlungen. In diesem Falle aber wäre die hier formulierte Allgemeinaussage keine empirische Hypothese, sondern gäbe eine analytische Beziehung zwischen M und H wieder und wäre damit eine analytisch wahre Aussage. Eine deduktiv-nomologische Erklärung ist im Falle des Bezuges auf Motive nur dann möglich, wenn die das Verhalten erklärenden Motive einer Person unabhängig von diesem ihrem Verhalten festgestellt werden könnten."
       

    Die Frage ist hier natürlich, ob man so bewährte Praxis- und Lebensregeln aufgeben sollte (weil er die Tür aufgemacht hat und rein ging, hat er das wohl gewollt), nur weil Wissenschaftstheoretiker nicht in der Lage sind, sie zirkelfrei zu verknüpfen, wobei man die behauptete Zirkularität durchaus bezweifeln kann. Natürlich sind Motiv und Handlung nicht unabhängig voneinander, sie stehen in Beziehung, wenn auch nicht in eindeutiger. Warum sollten sie auch?  Offensichtlich stören sich einige Theoretiker daran, dass man von Handlungen auf Motive zurückschließt. Zum Beispiel: P trinkt ein Glas Wasser, also hatte er wohl Durst. Der Schluss ist keineswegs zwingend, er könnte das Motiv gehabt haben, eine Tablette in sein Körperinneres zu spülen oder das Wasser zu prüfen, auf Geschmack, Temperatur, Frische oder Schalheit. Es könnte auch eine Gewohnheits- oder Verlegensheitshandlung gewesen sein. Fazit: in der Regel können wir aus einer Handlung nicht sicher auf ein Motiv, aber auf einige, die in Frage kommen, schließen und diese im Dialog evaluieren. Ein allgemeines Schema könnte etwa sein: Damit P seine Motive befriedigen kann, muss P sie spüren und geeignete Mittel zu ihrer Befriedigung kennen, beschaffen und anwenden können.
        In diese Richtung weist die teleologische Erklärung, die man kurz und bündig als ABC-Erklärung bezeichnen könnte: A tut B, um C zu erreichen. Das von den Autoren hier eingebrachte Schema erscheint nicht übermäßig praxistauglich. Auch die deutlich hervorgehobene Unterscheidung durch eine fehlende Gesetzesbedingung hinterlässt Zweifel. So erläutert S. 81 (Mitte der Seite) im teleologischen Schema: "b) Die Person erwartet, daß nur durch die Verhaltensweise v der Sachverhalt s herbeigeführt werden kann." Das kann man durchaus als subjektive Gesetzmäßigkeit auffassen (erwartet, nur), also dem G in der deduktiv-nomologischen Erklärung sehr ähnlich. Aber warum so streng und strikt? Warum genügen nicht einfache Praxisregeln, zumal wir die ja auch ständig erfolgreich anwenden. Menschen lernen im Laufe ihrer Sozialisation und ihrer Lebenserfahrung eine ganze Menge Regeln, die sie in ihrer Lebensbewältigung anwenden. Das Schöne am Regelbegriff ist, dass auch Ausnahmen zugelassen sind, was daher prima zum Leben passt. Wenn die Luft schlecht ist, muss ich für Lüftung, d.h. für Öffnen von Tür oder Fenster sorgen. Wenn ich wissen möchte, was einen anderen Menschen bewegt, dies oder jenes zu tun oder zu lassen, dann sollte ich nicht nur auf sein Handeln oder Verhalten schauen, sondern mit ihm darüber sprechen.
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    Korrespondenztheorie der Wahrheit
    S. 53f: "a) Korrespondenztheorie der Wahrheit
      Die Korrespondenztheorie der Wahrheit schließt an die alltagsweltliche Lösung der Überprüfung von Aussagen der uns durch unsere Sinnesorgane übermittelten Wirklichkeit an, also an die Methode des Hinschauens.
      Danach ist eine Aussage genau dann wahr, wenn sie mit den Tatsachen übereinstimmt (veritas adaequatio mentis et rei, vgl. Thomas v. Aquin FN8). Das scheint plausibel zu sein, doch unglücklicherweise handeln wir uns durch eine solche terminologische Festlegung ein gravierendes Problem ein: Was ist denn eine Tatsache? Und setzt nicht die Feststellung eines Sachverhaltes als Tatsache die Fest-[>54]stellung der Wahrheit bereits voraus? Vielleicht sind Wahrheit und Tatsache inhaltlich identisch, und unsere Wahrheitsdefinition wäre nichts anderes als eine Tautologie?
          Ein weiteres Problem dieser Theorie ist, dass die Tatsachen nur dann mit den Aussagen verglichen werden können, wenn jene selbst sprachlich formuliert sind. Denn vergleichen kann man nur Aussagen mit Aussagen und nicht Aussagen mit einer „stummen“ Realität. Man kann uns sagen, dass es derzeit draußen regnet; wenn wir aber hingehen, um uns von der Wahrheit dieser Aussage zu überzeugen, formulieren wir für uns selbst ebenfalls eine Aussage, wenn auch nur im Rahmen eines Selbstgespräches: „Tatsächlich, es stimmt: Es regnet."


        Für die These des Selbstgespräches bleiben die Autoren Belege schuldig. Was machen dann Stumme? Ich selber habe mich noch nie dabei ertappt, ein solches Selbstgespräch bei trivialen Alltagsprüfungen, etwa ob es regnet, noch Milch da oder die Tür offen ist, durchgeführt zu haben. Nachdem wohl auch Tiere ohne elaborierte Sprache zu Erkenntnissen, ob da eine Banane hängt, ein Feind sich nähert oder ob es dunkel wird, fähig sind, wird hier die Bedeutung der Sprache überbetont, es sei denn, man begreift Denken schon als Sprache (des Geistes). Was geschieht also genau, wenn zu prüfen ist, ob noch Milch da ist? Nun, man begibt sich an den Ort, wo man die Milch aufbewahrt und sieht nach, ob im Gefäß noch welche ist. Es wird sozusagen eine Vorstellung von "Milch da sein" mit einer Wahrnehmung "ist Milch da" verglichen. Die Korrespondenztheorie der Wahrheit wird in der Praxis vielfach erfolgreich und routinemäßig angewandt, auch wenn sie nicht alles richtig oder erschöpfend bestätigen kann. Bild und Abbild, Kopie oder Modell korrespondieren üblicherweise.
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    Querverweise
    Standort Handlungspsychologie.
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    Subjektwissenschaftliche Orientierung in der forensisch-psycho-pathologischen Begutachtungssituation.
    Allgemeine und Integrative Kommunikationstheorie.
      Grundzüge einer idiographischen Wissenschaftstheorie.
    Beweis und beweisen in Psychologie, Psychopathologie und Psychotherapie.
    Überblick Allgemeine Psychologie. * Überblick Forensische Psychologie.
    Überblick Wissenschaft in der IP-GIPT.
    Buch-Präsentationen, Literaturhinweise und Literaturlisten in der IP-GIPT. Überblick und Dokumentation.
    *
    Suchen in der IP-GIPT, z.B. mit Hilfe von "google": <suchbegriff> site: www.sgipt.org
    Buchpräsentation site: www.sgipt.org. 
    *
    Information für Dienstleistungs-Interessierte.
    *


    Zitierung
    Sponsel, Rudolf (DAS). Buchpräsentation Handlungspsychologie. Eine Einführung. Internet Publikation  für Allgemeine und Integrative Psychotherapie  IP-GIPT.Erlangen: https://www.sgipt.org/lit/VuR/HandPsy.htm
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    korrigiert: 15.02.2014 irs



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