Internet Publikation für Allgemeine und Integrative Psychotherapie
    (ISSN 1430-6972)
    IP-GIPT DAS=02.03.2013 Internet-Erstausgabe, letzte Änderung: 02.03.15
    Impressum: Diplom-Psychologe Dr. phil. Rudolf Sponsel  Stubenlohstr. 20  D-91052 Erlangen
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    Anfang_Kafka Der Prozess__Überblick__Rel. Aktuelles __Rel. Beständiges  _ Titelblatt__ Konzept__ Archiv__ Region__Service-iec-verlag___ Wichtiger Hinweis zu Links
    Willkommen in unserer Internet Publikation für Allgemeine und Integrative Psychotherapie, Abteilung Kunst, Ästhetik, Psychologie der Kunst, Bereich Theater, und hier speziell zum Thema:

    Der Prozess
    Ein Roman von Franz Kafka (1883-1924)
    1914-1916 unvollendet, 1925 erstmals von Max Brod herausgegeben

    Eindrücke von der Inszenierung im Markgrafentheater Erlangen am 27.2.2013
    und einer Auseinandersetzung mit dem Roman und seiner Deutung

    von Rudolf Sponsel und Irmgard Rathsmann-Sponsel, Erlangen

    "Wenn du sagst, dies ist ein Fächer, dann bekommst du 30 Stockschläge.
    Wenn du sagst, dies ist kein Fächer, dann bekommst du auch 30 Stockschläge.
    Wie nennst du es also?" [Q]
    _

    Inhaltsübersicht

    Theaterinfo * Text zur Premiere.
    Eindrücke von Inszenierung im Markgrafentheater am 27.2.13.
      1. Kapitel: Verhaftung. Gespräch mit Frau Grubach. Dann Fräulein Bürstner.
      2. Kapitel: Erste Untersuchung. 
      3. Kapitel: Im leeren Sitzungssaal. Der Student. Die Kanzleien.
      Exkurs: Der Prozess strotzt vor erotisch-sexuellen Anspielungen und Szenen.
      4. Kapitel: Die Freundin des Fräulein Bürstner.
      5. Kapitel: Der Prügler.
      6. Kapitel: Der Onkel – Leni.
      7. Kapitel: Advokat - Fabrikant - Maler.
      8. Kapitel: Kaufmann Block. Kündigung des Advokaten.
      9. Kapitel: Im Dom - Türhüter.
     10. Kapitel: Ende.
    Zusammenfassende Eindrücke von der Erlanger Inszenierung.

    *
    Der Roman und seine Deutung - Umgang mit dem Irrationalen, 
    Surrealen, Absurden und Unfassbaren:
       Zusammenfassung.
       Der Weg zum Verständnis im einzelnen.
       Deutung der Türhüterparabel oder des Kafkaesken Koans im Kontext 
            des Prozesses.
       Einige literarische Fakten im Prozess.
       Einige Koans, Widersprüche und Paradoxien im Prozess.
       Kafkaeske Sprachspiele (brainstorming).
       Existenzielle Themen  (brainstorming).
       Brainstorming Psychopathologie im Prozess.
    *
    Literatur * Links *
    Glossar, Anmerkungen und Endnoten: 
       Bezugsrahmen sprengen * Das Verfahren macht die Betroffenen schön
       Eindrücke * Inhalt und Gliederung des Romans *
       Koan * Kunstinterpretation und Kunst-Kritik *  Interpretation des
       (vermeintlich) Irrationalen, Surrealen, Absurden und Unfassbaren * 
       Kafkas Schöpfungen * Max Brods Gewissenslösung * 
       "Schuld" und ihr Kontext im Prozess * Testmant Franz Kafkas * 
       Werkorientierte Interpretation *  Wort und Begriff "Gesetz" im Prozess *
       Zur Charaktersierung des anderen Gerichts im Prozess.
    *
    Querverweise * Zitierung & Copyright * Änderungen *

    Theater Info: "DER PROZESS von Franz Kafka. Bühnenfassung Constanze Kreusch / Julie Paucker
    Besetzung. Regie … Constanze Kreusch. Bühne und Kostüme … Petra Wilke. Dramaturgie ... Julie Paucker
    MIT ... Robert Naumann, Daniel Seniuk, Anja Thiemann, Christian Wincierz, Benedikt Zimmermann, Violetta Zupancic
     
    Josef K., angesehener Prokurist einer Bank, wird an seinem dreißigsten Geburtstag verhaftet, ohne sich einer Schuld bewusst zu sein. Zwar muss er nicht ins Gefängnis und kann weiter seiner Arbeit nachgehen, aber er erfährt, dass er von Zeit zu Zeit bei einem besonderen Gericht zu erscheinen hat, wo seine Angelegenheit untersucht werden soll. Während er sein normales Leben weiterführt, nimmt parallel der Prozess einen immer größeren Raum ein. In einem undurchschaubaren System aus pseudobürokratischen Dienststellen mit gleichermaßen skurrilen wie bestechlichen Angestellten, Richtern und Advokaten versucht K. sich notdürftig zurechtzufinden. Sobald er mit dem Prozess zu tun hat, bewegt er sich durch surreale Szenerien: Beim Versuch, seine Sache zu verteidigen, wird er in alptraumhafter Weise immer wieder auf Umwege gelenkt, über bürokratische Hürden geführt und in ausweglose Situationen gebracht. Zwischendurch bekommt er Ratschläge von dubiosen Bekannten, ohne zu wissen, ob man ihnen vertrauen kann. Geheimnisvolle Frauen werben um K. und verfolgen dabei unergründliche Ziele. Nichts ist, wie es scheint. Besonders kurios ist die Tatsache, dass K. nicht erfährt, welchen Verbrechens man ihn überhaupt beschuldigt. DER PROZESS entstand zwischen 1914 und 1915, blieb unvollendet und erschien 1925 postum in einer durch Kafkas Freund und Verleger Max Brod vorgenommenen Reihenfolge der ungeordneten und teilweise fragmentarischen Kapitel. Der Text mit der berühmten Türhüterparabel und den soghaften Geschehnissen, welchen der Protagonist ausgeliefert ist, übt bis heute eine starke Anziehungskraft aus. Seine rätselhafte Handlung, die innerhalb ihrer eigenen Gesetzmäßigkeit dennoch eine strenge Logik verfolgt, bietet viel Spielraum für Interpretationen. Wir werden das Romanfragment in einer eigenen Fassung auf die Bühne bringen."

    Text zur Premiere am 21. Februar 2013 | 19.30 Uhr | Markgrafentheater
    "K. lebte doch in einem Rechtsstaat, überall herrschte Friede, alle Gesetze bestanden aufrecht, wer wagte, ihn in seiner Wohnung zu überfallen?"
        Out of the blue wird Josef K. verhaftet. Am Tage seines 30. Geburtstags serviert man ihm anstelle seines Frühstücks einen Haftbefehl. Ihm droht ein Strafprozess. Und obwohl man ihm versichert, er könne seiner gewöhnlichen Lebensweise weiterhin nachgehen, ist für ihn nichts mehr wie zuvor. Er wird offensichtlich verdächtigt - doch von wem? Und wofür?
        Wo eben noch sicheres Terrain war - der erfolgsverwöhnte K. steht kurz vor der Beförderung in seiner Bank - ist plötzlich dünnes Eis. Und je wütender K. versucht, sich seinem ominösen Feind, dem Gericht, entgegenzustellen, oder der Ursache seiner Verhaftung auf den Grund zu kommen, desto mehr scheint er sich in einem System zu verstricken, dessen Logik sich ihm gänzlich entzieht.
        Franz Kafkas Roman "Der Prozess" entstand zwischen 1914 und 1915 und blieb unvollendet. Er erschien postum und gegen den testamentarischen Wunsch des Autors, der seine Werke verbrannt haben wollte. Kafkas Freund und Verleger Max Brod widersetzte sich diesem Wunsch, brachte die ungeordneten und teilweise fragmentarischen Kapitel in eine Reihenfolge, und publizierte den Text 1925 in einer ersten Ausgabe. Für die Inszenierung am Theater Erlangen haben Regisseurin Constanze Kreusch und Dramaturgin Julie Paucker eine eigene Bühnenfassung hergestellt.



    Eindrücke von Inszenierung im Markgrafentheater am 27.2.13

    Die Inszenierung beginnt eindrucksvoll mit der Türhüterparabel (Deutung)  Die SchauspielerInnen sind am Parkettrand verteilt und flüstern abwechselnd den Türhütertext.


    Fotograf © Jochen Quast

    1. Kapitel: Verhaftung. Gespräch mit Frau Grubach. Dann Fräulein Bürstner.
    Die fast leere Bühne erzeugt mit dem Hintergrundbild eine Gitterwahrnehmung. Der Text informiert in verschiedenen "Aufzügen" immer wieder über die Zeit, die noch bleibt. Am Anfang, an seinem 30. Geburtstag, an dem die dubiose Verhaftung Josef Ks. erfolgt,  sind es "Noch 365 Tage".
        "Jemand mußte Josef K. verleumdet haben, denn ohne daß er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet." Die "Verhaftung" steht in besonderem Kontrast zum Geburtstag Josef Ks. Sie setzt auch völlig plötzlich und überraschend - sozusagen über Nacht - ein. Als Josef K. erwacht, und noch im Bett sein Frühstück haben will, kommen auf sein Läuten zwei unbekannte Männer in sein Zimmer, die sich nicht vorstellen und auch nicht erklären, was sie hier treiben und wollen.
     
    K. reagiert zunächst selbstbewusst und vernünftig, wenn er den beiden Wächtern sagt: »Ich will weder hierbleiben, noch von Ihnen angesprochen werden, solange Sie sich mir nicht vorstellen.« Dann kommt sehr schnell eine irritierende  Unterwerfungsreaktion: (fett-kursiv) " »Sie dürfen nicht weggehen, Sie sind ja verhaftet.« »Es sieht so aus«, sagte K. »Und warum denn?« fragte er dann. »Wir sind nicht dazu bestellt, Ihnen das zu sagen. Gehen Sie in Ihr Zimmer und warten Sie". Nachdem er seine gesuchten Legitimationspapiere gefunden hat, behauptet er sich wieder: ". »Hier sind meine Legitimationspapiere, zeigen Sie mir jetzt die Ihrigen und vor allem den Verhaftbefehl.« " Zur Verhaftung wird geäußert: "Unsere Behörde, soweit ich sie kenne, und ich kenne nur die niedrigsten Grade, sucht doch nicht etwa die Schuld in der Bevölkerung, sondern wird, wie es im Gesetz heißt, von der Schuld angezogen und muß uns Wächter ausschicken. Das ist Gesetz. Wo gäbe es da einen Irrtum?« »Dieses Gesetz kenne ich nicht«, sagte K. »Desto schlimmer für Sie«, sagte der Wächter. »Es besteht wohl auch  nur in Ihren Köpfen«, sagte K., er wollte sich 
    Fotograf © Jochen Quast

      irgendwie in die Gedanken der Wächter einschleichen, sie zu seinen Gunsten wenden oder sich 

     dort einbürgern. Aber der Wächter sagte nur abweisend: »Sie werden es zu fühlen bekommen.«"

        Frühzeitig wird deutlich, dass Undurchsichtiges, Merkwürdiges, aber auch Korruption und Allzumenschliches in diesem Gerichtszweig die Normalität zu sein scheint. Es folgt das Gespräch mit Frau Grubach und dann die nächtliche Begegnung mit Fräulein Bürstner, die er unvermittelt küsst. Das ist die erste merkwürdige erotische Entgleisung im Stück (> Der Prozess strotzt vor erotisch-sexuellen Anspielungen und Szenen): "»Ich komme schon«, sagte K., lief vor, faßte sie, küßte sie auf den Mund und dann über das ganze Gesicht, wie ein durstiges Tier mit der Zunge über das endlich gefundene Quellwasser hinjagt. Schließlich küßte er sie auf den Hals, wo die Gurgel ist, und dort ließ er die Lippen lange liegen."
        Der erste Teil bringt eine textnahe Einführung (ca. 35 Minuten).

    2. Kapitel: Erste Untersuchung (Musik untermalt)
    Die erste Untersuchung gestaltet sich mehr zu einer kritischen Anklage Ks. gegen das ganze Verfahren und das System.
        "K. war telephonisch verständigt worden, daß am nächsten Sonntag eine kleine Untersuchung in seiner Angelegenheit stattfinden würde. Man machte ihn darauf aufmerksam, daß diese Untersuchungen regelmäßig, wenn auch vielleicht nicht jede Woche, so doch häufige, einander folgen würden. Es liege einerseits im allgemeinen Interesse, den Prozeß rasch zu Ende zu führen, anderseits aber müßten die Untersuchungen in jeder Hinsicht gründlich sein und dürften doch wegen der damit verbundenen Anstrengung niemals allzulange dauern. Deshalb habe man den Ausweg dieser rasch aufeinanderfolgenden, aber kurzen Untersuchungen gewählt. Die Bestimmung des Sonntags als Untersuchungstag habe man deshalb vorgenommen, um K. in seiner beruflichen Arbeit nicht zu stören. Man setze voraus, daß er damit einverstanden sei, sollte er einen anderen Termin wünschen, so würde man ihm, so gut es ginge, entgegenkommen."
        Am Sonntag trifft K. beim Untersuchungsgericht später als erwartet (aber nicht vorher ausgesprochen) ein und zeigt sich dem Untersuchungsrichter gegenüber kritisch und selbstbewusst: "»Ihre Frage, Herr Untersuchungsrichter, ob ich Zimmermaler bin – vielmehr, Sie haben gar nicht gefragt, sondern es mir auf den Kopf zugesagt -, ist bezeichnend für die ganze Art des Verfahrens, das gegen mich geführt wird. Sie können einwenden, daß es ja überhaupt kein Verfahren ist, Sie haben sehr recht, denn es ist ja nur ein Verfahren, wenn ich es als solches anerkenne. Aber ich erkenne es also für den Augenblick jetzt an, aus Mitleid gewissermaßen. Man kann sich nicht anders als mitleidig dazu stellen, wenn man es überhaupt beachten will. Ich sage nicht, daß es ein liederliches Verfahren ist, aber ich möchte Ihnen diese Bezeichnung zur Selbsterkenntnis angeboten haben.«"
        ..."»Das sind die Akten des Untersuchungsrichters«, sagte er und ließ das Heft auf den Tisch hinunterfallen. »Lesen Sie darin ruhig weiter, Herr Untersuchungsrichter, vor diesem Schuldbuch fürchte ich mich wahrhaftig nicht, obwohl es mir unzugänglich ist, denn ich kann es nur mit zwei Fingern anfassen und würde es nicht in die Hand nehmen.« Es konnte nur ein Zeichen tiefer Demütigung sein oder es mußte zumindest so aufgefaßt werden, daß der Untersuchungsrichter nach dem Heftchen, wie es auf den Tisch gefallen war, griff, es ein wenig in Ordnung zu bringen suchte und es wieder vornahm, um darin zu lesen. ...."
        ..."Unter den Bärten aber – und das war die eigentliche Entdeckung, die K. machte – schimmerten am Rockkragen Abzeichen in verschiedener Größe und Farbe. Alle hatten diese Abzeichen, soweit man sehen konnte. Alle gehörten zueinander, die scheinbaren Parteien rechts und links, und als er sich plötzlich umdrehte, sah er die gleichen Abzeichen am Kragen des Untersuchungsrichters, der, die Hände im Schoß, ruhig hinuntersah. »So«, rief K. und warf die Arme in die Höhe, die plötzliche Erkenntnis wollte Raum, »ihr seid ja alle Beamte, wie ich sehe, ihr seid ja die korrupte Bande, gegen die ich sprach, ihr habt euch hier gedrängt, als Zuhörer und Schnüffler, habt scheinbare Parteien gebildet, und eine hat applaudiert, um mich zu prüfen, ihr wolltet lernen, wie man Unschuldige verführen soll! ... ... Der Untersuchungsrichter schien aber noch schneller als K. gewesen zu sein, denn er erwartete ihn bei der Tür. »Einen Augenblick«, sagte er. K. blieb stehen, sah aber nicht auf den Untersuchungsrichter, sondern auf die Tür, deren Klinke er schon ergriffen hatte. »Ich wollte Sie nur darauf aufmerksam machen«, sagte der Untersuchungsrichter, »daß Sie sich heute – es dürfte Ihnen noch nicht zu Bewußtsein gekommen sein – des Vorteils beraubt haben, den ein Verhör für den Verhafteten in jedem Falle bedeutet.« K. lachte die Tür an. »Ihr Lumpen«, rief er, »ich schenke euch alle Verhöre«, öffnete die Tür und eilte die Treppe hinunter. " (eine knappe 3/4 h).

    3. Kapitel: Im leeren Sitzungssaal. Der Student. Die Kanzleien.
    K. nahm an, er sei am nächsten Sonntag wieder bestellt. Doch als er beim Untersuchungsgericht eintrifft, ist da niemand. Er trifft die Frau des Gerichtsdieners, die sich ihm, wie er meinte, anbot. Nachdem er erfuhr, dass heute keine Verhandlungen seien, kommt es zum Gespräch über seinen Prozess: "Mit dem, was ich früher sagte, wollte ich Sie nur bitten, in meinem Prozeß nichts für mich zu unternehmen. Aber auch das muß Sie nicht kränken, wenn Sie bedenken, daß mir am Ausgang des Prozesses gar nichts liegt und daß ich über eine Verurteilung nur lachen werde. Vorausgesetzt, daß es überhaupt zu einem wirklichen Abschluß des Prozesses kommt, was ich sehr bezweifle. Ich glaube vielmehr, daß das Verfahren infolge Faulheit oder Vergeßlichkeit oder vielleicht sogar infolge Angst der Beamtenschaft schon abgebrochen ist oder in der nächsten Zeit abgebrochen werden wird. Möglich ist allerdings auch, daß man in Hoffnung auf irgendeine größere Bestechung den Prozeß scheinbar weiterführen wird, ganz vergeblich, wie ich heute schon sagen kann, denn ich besteche niemanden. Es wäre immerhin eine Gefälligkeit, die Sie mir leisten könnten, wenn Sie dem Untersuchungsrichter oder irgend jemandem sonst, der wichtige Nachrichten gern verbreitet, mitteilten, daß ich niemals und durch keine Kunststücke, an denen die Herren wohl reich sind, zu einer Bestechung zu bewegen sein werde. Es wäre ganz aussichtslos, das können Sie ihnen offen sagen. ..."
        "... Plötzlich unterbrach sie sich, legte ihre Hand auf K.s Hand, als wolle sie ihn beruhigen, und flüsterte: »Still, Berthold sieht uns zu.« K. hob langsam den Blick. In der Tür des Sitzungszimmers stand ein junger Mann, er war klein, hatte nicht ganz gerade Beine und suchte sich durch einen kurzen, schütteren, rötlichen Vollbart, in dem er die Finger fortwährend herumführte, Würde zu geben. K. sah ihn neugierig an, es war ja der erste Student der unbekannten Rechtswissenschaft, dem er gewissermaßen menschlich begegnete, ein Mann, der wahrscheinlich auch einmal zu höheren Beamtenstellen gelangen würde. Der Student dagegen kümmerte sich um K. scheinbar gar nicht, er winkte nur mit einem Finger, den er für einen Augenblick aus seinem Barte zog, der Frau und ging zum Fenster, die Frau beugte sich zu K. und flüsterte: »Seien Sie mir nicht böse, ich bitte Sie vielmals, denken Sie auch nicht schlecht von mir, ich muß jetzt zu ihm gehen, zu diesem scheußlichen Menschen, sehen Sie nur seine krummen Beine an. Aber ich komme gleich zurück, und dann gehe ich mit Ihnen, wenn Sie mich mitnehmen, ich gehe, wohin Sie wollen, Sie können mit mir tun, was Sie wollen, ich werde glücklich sein, wenn ich von hier für möglichst lange Zeit fort bin, am liebsten allerdings für immer.« Sie streichelte noch K.s Hand, sprang auf und lief zum Fenster. Unwillkürlich haschte noch K. nach ihrer Hand ins Leere. Die Frau verlockte ihn wirklich, er fand trotz allem Nachdenken keinen haltbaren Grund dafür, warum er der Verlockung nicht nachgeben sollte. Den flüchtigen Einwand, daß ihn die Frau für das Gericht einfange, wehrte er ohne Mühe ab. Auf welche Weise konnte sie ihn einfangen? Blieb er nicht immer so frei, daß er das ganze Gericht, wenigstens soweit es ihn betraf, sofort zerschlagen konnte? Konnte er nicht dieses geringe Vertrauen zu sich haben? Und ihr Anerbieten einer Hilfe klang aufrichtig und war vielleicht nicht wertlos. Und es gab vielleicht keine bessere Rache an dem Untersuchungsrichter und seinem Anhang, als daß er ihnen diese Frau entzog und an sich nahm. Es könnte sich dann einmal der Fall ereignen, daß der Untersuchungsrichter nach mühevoller Arbeit an Lügenberichten über K. in später Nacht das Bett der Frau leer fand. Und leer deshalb, weil sie K. gehörte, weil diese Frau am Fenster, dieser üppige, gelenkige, warme Körper im dunklen Kleid aus grobem, schwerem Stoff, durchaus nur K. gehörte."
        Es kommt dann auf offener Bühne zum Sex zwischen der Frau der Gerichtsdieners und dem Studenten. K. schaut zu.

    Exkurs: Der Prozess strotzt vor erotisch-sexuellen Anspielungen und Szenen
    Das wird in der Erlanger Inszenierung sehr stark ausgespielt.
     
    Das ganze Stück ist durchsetzt mit einer merk- würdig -  paradox anmutend  - selbstver- ständlichen wie beziehungslosen Sexualität, die einerseits wie im Nebenbei geschieht, anderer-
    seits als  Hauptthema für alle erscheint, wobei jeder mit jeder zwischen Zeitvertreib und Triebhaftigkeit die "Sache" pflegen kann, besonders K., der in typischer Machomanier seine eigene Sexsucht in die Frauen projiziert: 
    Elsa, Fräulein Bürstner, die Pflegerin, die Frau des Gerichtsdieners, Leni, die Mädchen im Haus, in dem der Maler Titorelli wohnt (Kindlichkeit und Verworfenheit)

    Josef K.: "Die Frauen haben eine große Macht. Wenn ich einige Frauen, die ich kenne, dazu bewegen könnte, gemeinschaftlich für mich zu arbeiten, müsste ich durchdringen. Besonders bei diesem Gericht, das fast nur aus Frauenjägern besteht. Zeig dem Untersuchungsrichter eine Frau aus der Ferne, und er überrennt, um nur recht- zeitig hinzukommen, den Gerichtstisch und den Angeklagten.«" [9. Kap]


    Fotograf © Jochen Quast

    Die Kanzleien, von denen es sehr viele zu geben scheint,  werden in einem kurios-erbärmlichen Zustand geschildert, in alten Häusern, auf den Böden, schlechte Luft, überfüllt. In dieser Umgebung kommt es zu einem ersten, vielleicht symbolträchtigen und vorahnungsvollen Schwäche- oder Angstanfall (Panikstörung) Ks.: "»Nein«, sagte K., »ich will mich nicht ausruhen.« Er hatte das mit möglichster Bestimmtheit gesagt, in Wirklichkeit hätte es ihm sehr wohlgetan, sich niederzusetzen. Er war wie seekrank. Er glaubte auf einem Schiff zu sein, das sich in schwerem Seegang befand. Es war ihm, als stürze das Wasser gegen die Holzwände, als komme aus der Tiefe des Ganges ein Brausen her, wie von überschlagendem Wasser, als schaukle der Gang in der Quere und als würden die wartenden Parteien zu beiden Seiten gesenkt und gehoben."
     

    4. Kapitel: Die Freundin des Fräulein Bürstner
    In der Erlanger Inszenierung nicht berücksichtigt.
     

    5. Kapitel: Der Prügler   K.: »schuldig ist die Organisation, schuldig sind die hohen Beamten.«
    "Als K. an einem der nächsten Abende den Korridor passierte, der sein Büro von der Haupttreppe trennte – er ging diesmal fast als der letzte nach Hause, nur in der Expedition arbeiteten noch zwei Diener im kleinen Lichtfeld einer Glühlampe -, hörte er hinter einer Tür, hinter der er immer nur eine Rumpelkammer vermutet hatte, ohne sie jemals selbst gesehen zu haben, Seufzer ausstoßen. Er blieb erstaunt stehen und horchte noch einmal auf, um festzustellen, ob er sich nicht irrte – es wurde ein Weilchen still, dann waren es aber doch wieder Seufzer. – Zuerst wollte er einen der Diener holen, man konnte vielleicht einen Zeugen brauchen, dann aber faßte ihn eine derart unbezähmbare Neugierde, daß er die Tür förmlich aufriß. Es war, wie er richtig vermutet hatte, eine Rumpelkammer. Unbrauchbare, alte Drucksorten, umgeworfene leere irdene Tintenflaschen lagen hinter der Schwelle. In der Kammer selbst aber standen drei Männer, gebückt in dem niedrigen Raum. Eine auf einem Regal festgemachte Kerze gab ihnen Licht. »Was treibt ihr hier?« fragte K., sich vor Aufregung überstürzend, aber nicht laut. Der eine Mann, der die anderen offenbar beherrschte und zuerst den Blick auf sich lenkte, stak in einer Art dunkler Lederkleidung, die den Hals bis tief zur Brust und die ganzen Arme nackt ließ. Er antwortete nicht. Aber die zwei anderen riefen: »Herr! Wir sollen geprügelt werden, weil du dich beim Untersuchungsrichter über uns beklagt hast.« Und nun erst erkannte K., daß es wirklich die Wächter Franz und Willem waren, und daß der dritte eine Rute in der Hand hielt, um sie zu prügeln. »Nun«, sagte K. und starrte sie an, »ich habe mich nicht beklagt, ich habe nur gesagt, wie es sich in meiner Wohnung zugetragen hat. Und einwandfrei habt ihr euch ja nicht benommen.« »Herr«, sagte Willem, während Franz sich hinter ihm vor dem dritten offenbar zu sichern suchte, »wenn Ihr wüßtet, wie schlecht wir bezahlt sind, Ihr würdet besser über uns urteilen. Ich habe eine Familie zu ernähren, und Franz hier wollte heiraten, man sucht sich zu bereichern, wie es geht, durch bloße Arbeit gelingt es nicht, selbst durch die angestrengteste. Euere feine Wäsche hat mich verlockt, es ist natürlich den Wächtern verboten, so zu handeln, es war unrecht, aber Tradition ist es, daß die Wäsche den Wächtern gehört, es ist immer so gewesen, glaubt es mir; es ist ja auch verständlich, was bedeuten denn noch solche Dinge für den, welcher so unglücklich ist, verhaftet zu werden? Bringt er es dann allerdings öffentlich zur Sprache, dann muß die Strafe erfolgen.« »Was ihr jetzt sagt, wußte ich nicht, ich habe auch keineswegs eure Bestrafung verlangt, mir ging es um ein Prinzip.« »Franz«, wandte sich Willem zum anderen Wächter, »sagte ich dir nicht, daß der Herr unsere Bestrafung nicht verlangt hat? Jetzt hörst du, daß er nicht einmal gewußt hat, daß wir bestraft werden müssen.« »Laß dich nicht durch solche Reden rühren«, sagte der dritte zu K., »die Strafe ist ebenso gerecht als unvermeidlich.« »Höre nicht auf ihn«, sagte Willem und unterbrach sich nur, um die Hand, über die er einen Rutenhieb bekommen hatte, schnell an den Mund zu führen, »wir werden nur gestraft, weil du uns angezeigt hast. Sonst wäre uns nichts geschehen, selbst wenn man erfahren hätte, was wir getan haben. Kann man das Gerechtigkeit nennen? Wir zwei, insbesondere aber ich, hatten uns als Wächter durch lange Zeit sehr bewährt – du selbst mußt eingestehen, daß wir, vom Gesichtspunkt der Behörde gesehen, gut gewacht haben – wir hatten Aussicht, vorwärtszukommen und wären gewiß bald auch Prügler geworden wie dieser, der eben das Glück hatte, von niemandem angezeigt worden zu sein, denn eine solche Anzeige kommt wirklich nur sehr selten vor. Und jetzt, Herr, ist alles verloren, unsere Laufbahn beendet, wir werden noch viel untergeordnetere Arbeiten leisten müssen, als es der Wachdienst ist, und überdies bekommen wir jetzt diese schrecklich schmerzhaften Prügel.« »Kann denn die Rute solche Schmerzen machen?« fragte K. und prüfte die Rute, die der Prügler vor ihm schwang. »Wir werden uns ja ganz nackt ausziehen müssen«, sagte Willem. »Ach so«, sagte K. und sah den Prügler genau an, er war braun gebrannt wie ein Matrose und hatte ein wildes, frisches Gesicht. »Gibt es keine Möglichkeit, den beiden die Prügel zu ersparen?« fragte er ihn. »Nein«, sagte der Prügler und schüttelte lächelnd den Kopf. »Zieht euch aus!« befahl er den Wächtern. Und zu K. sagte er: »Du mußt ihnen nicht alles glauben, sie sind durch die Angst vor den Prügeln schon ein wenig schwachsinnig geworden. Was dieser hier, zum Beispiel« – er zeigte auf Willem – »über seine mögliche Laufbahn erzählt hat, ist geradezu lächerlich. Sieh an, wie fett er ist – die ersten Rutenstreiche werden überhaupt im Fett verlorengehen. – Weißt du, wodurch er so fett geworden ist? Er hat die Gewohnheit, allen Verhafteten das Frühstück aufzuessen. Hat er nicht auch dein Frühstück aufgegessen? Nun, ich sagte es ja. Aber ein Mann mit einem solchen Bauch kann nie und nimmermehr Prügler werden, das ist ganz ausgeschlossen.« »Es gibt auch solche Prügler«, behauptete Willem, der gerade seinen Hosengürtel löste. »Nein«, sagte der Prügler und strich ihm mit der Rute derartig über den Hals, daß er zusammenzuckte, »du sollst nicht zuhören, sondern dich ausziehen.« »Ich würde dich gut belohnen, wenn du sie laufen läßt«, sagte K. und zog, ohne den Prügler nochmals anzusehen – solche Geschäfte werden beiderseits mit niedergeschlagenen Augen am besten abgewickelt – seine Brieftasche hervor. »Du willst wohl dann auch mich anzeigen«, sagte der Prügler, »und auch noch mir Prügel verschaffen. Nein, nein!« »Sei doch vernünftig«, sagte K., »wenn ich gewollt hätte, daß diese beiden bestraft werden, würde ich sie doch jetzt nicht loskaufen wollen. Ich könnte einfach die Tür hier zuschlagen, nichts weiter sehen und hören wollen und nach Hause gehen. Nun tue ich das aber nicht, vielmehr liegt mir ernstlich daran, sie zu befreien; hätte ich geahnt, daß sie bestraft werden sollen oder auch nur bestraft werden können, hätte ich ihre Namen nie genannt. Ich halte sie nämlich gar nicht für schuldig, schuldig ist die Organisation, schuldig sind die hohen Beamten.«  ..."
     

    6. Kapitel: Der Onkel – Leni
     »Das Gespenst vom Lande« war von K.s Prozess informiert worden, er wollte nun Genaueres - ohne Rücksicht auf Mithörer - wissen und Hilfe für K. und den Ruf der Familie leisten:  "... das Wichtigste ist jetzt, keine Zeit zu verlieren.« Schon während seiner Rede hatte er, auf den Fußspitzen stehend, einem Automobil gewinkt und zog jetzt, während er gleichzeitig dem Wagenlenker eine Adresse zurief, K. hinter sich in den Wagen. »Wir fahren jetzt zum Advokaten Huld«, sagte er, »er war mein Schulkollege." An dieser Stelle - im Roman die Taxifahrt zum Advokaten Huld - bringt die Inszenierung etwas Neues ein. Der Onkel und K. singen ein tschechisches Lied - dem Inhalt nach ein echtes Kontrastprogramm zum beziehungslosen Sex im Prozess - und tanzen dabei vergnügt zur schmissig-einnehmenden Melodie.
     
    Sag mir bitte ganz leise
    dass ich Deine einzige bin
    dass Du Dich immer nach mir sehnst, Du, mein Käferchen
    dass in meinen Armen Dein Paradies beginnt

    Sage mir bitte ständig
    dass Du mich über alles liebst
    dass ich Deine Allerschönste und so weiter 
    dass Du mich ewig lieben wirst

                     G. W. (frei übersetzt 2.3.13, im Karibu) Youtube

    Als die Sing-Tanzeinlage endet (spontaner Applaus des Publikums) sagt der Onkel: "Wir sind da".
        Auch der Advokat wusste schon vom Prozess K.s wie anscheinend die halbe Stadt. Selbst an dem Ort, wo es für K. um subjektiv wirklich Wichtiges gehen sollte, verzieht er sich lieber stundenlang mit Leni, die offenbar für alle "da" ist,  zum Knutschen, Fummeln und Bummsen. Der Zusammenhang beziehungsloser Sex, Schuld, Missachtung elementarer Höflichkeit aber auch zweckirrationalen Prozessbewältigungsverhaltens wird in diesem Kapitel besonders deutlich gemacht. Der Onkel kritisiert: "Du hast deiner Sache, die auf gutem Wege war, schrecklich geschadet. Verkriechst dich mit einem kleinen, schmutzigen Ding, das überdies offensichtlich die Geliebte des Advokaten ist, und bleibst stundenlang weg. Suchst nicht einmal einen Vorwand, verheimlichst nichts, nein, bist ganz offen, läufst zu ihr und bleibst bei ihr."
     

    7. Kapitel: Advokat - Fabrikant - Maler
    In diesem Kapitel werden die Merkwürdigkeiten der anderen Gerichte mehrfach beleuchtet. Zu Beginn wird das Verhältnis zum Advokaten entfaltet: "K. wußte ja gar nicht, was der Advokat unternahm; viel war es jedenfalls nicht, schon einen Monat lang hatte er ihn nicht mehr zu sich berufen, und auch bei keiner der früheren Besprechungen hatte K. den Eindruck gehabt, daß dieser Mann viel für ihn erreichen könne. Vor allem hatte er ihn fast gar nicht ausgefragt. Und hier war doch so viel zu fragen. Fragen war die Hauptsache. K. hatte das Gefühl, als ob er selbst alle hier nötigen Fragen stellen könnte. Der Advokat dagegen, statt zu fragen, erzählte selbst oder saß ihm stumm gegenüber, beugte sich, wahrscheinlich wegen seines schwachen Gehörs, ein wenig über den Schreibtisch vor, zog an einem Bartstrahn innerhalb seines Bartes und blickte auf den Teppich nieder, vielleicht gerade auf die Stelle, wo K. mit Leni gelegen war. Hier und da gab er K. einige leere Ermahnungen, wie man sie Kindern gibt. Ebenso nutzlose wie langweilige Reden, die K. in der Schlußabrechnung mit keinem Heller zu bezahlen gedachte. Nachdem der Advokat ihn genügend gedemütigt zu haben glaubte, fing er gewöhnlich an, ihn wieder ein wenig aufzumuntern."
        Sodann gibt der Advokat widerspruchsvolle Einblicke in die groteske Arbeit der "anderen" Gerichte: "Er habe natürlich sofort zu arbeiten begonnen, und die erste Eingabe sei schon fast fertiggestellt. Sie sei sehr wichtig, weil der erste Eindruck, den die Verteidigung mache, oft die ganze Richtung des Verfahrens bestimme. Leider, darauf müsse er K. allerdings aufmerksam machen, geschehe es manchmal, daß die ersten Eingaben bei Gericht gar nicht gelesen würden. Man lege sie einfach zu den Akten und weise darauf hin, daß vorläufig die Einvernahme und Beobachtung des Angeklagten wichtiger sei als alles Geschriebene. Man fügt, wenn der Petent dringlich wird, hinzu, daß man vor der Entscheidung, sobald alles Material gesammelt ist, im Zusammenhang natürlich, alle Akten, also auch diese erste Eingabe, überprüfen wird. Leider sei aber auch dies meistens nicht richtig, die erste Eingabe werde gewöhnlich verlegt oder gehe gänzlich verloren, und selbst wenn sie bis zum Ende erhalten bleibt, werde sie, wie der Advokat allerdings nur gerüchtweise erfahren hat, kaum gelesen. Das alles sei bedauerlich, aber nicht ganz ohne Berechtigung. K. möge doch nicht außer acht lassen, daß das Verfahren nicht öffentlich sei, es kann, wenn das Gericht es für nötig hält, öffentlich werden, das Gesetz aber schreibt Öffentlichkeit nicht vor. Infolgedessen sind auch die Schriften des Gerichts, vor allem die Anklageschrift, dem Angeklagten und seiner Verteidigung unzugänglich, man weiß daher im allgemeinen nicht oder wenigstens nicht genau, wogegen sich die erste Eingabe zu richten hat, sie kann daher eigentlich nur zufälligerweise etwas enthalten, was für die Sache von Bedeutung ist. Wirklich zutreffende und beweisführende Eingaben kann man erst später ausarbeiten, wenn im Laufe der Einvernahmen des Angeklagten die einzelnen Anklagepunkte und ihre Begründung deutlicher hervortreten oder erraten werden können. Unter diesen Verhältnissen ist natürlich die Verteidigung in einer sehr ungünstigen und schwierigen Lage. Aber auch das ist beabsichtigt. Die Verteidigung ist nämlich durch das Gesetz nicht eigentlich gestattet, sondern nur geduldet, und selbst darüber, ob aus der betreffenden Gesetzesstelle wenigstens Duldung herausgelesen werden soll, besteht Streit. Es gibt daher strenggenommen gar keine vom Gericht anerkannten Advokaten, alle, die vor diesem Gericht als Advokaten auftreten, sind im Grunde nur Winkeladvokaten."

        Die Szene mit dem Maler Titorelli - K. erfährt durch den Fabrikanten, einen Kunden der Bank, von ihm - , ist zum "Verständnis" der anderen Gerichtsverfahren ebenfalls sehr erhellend:
        "»Dann bin ich also frei«, sagte K. zögernd. »Ja«, sagte der Maler, »aber nur scheinbar frei oder, besser ausgedrückt, zeitweilig frei. Die untersten Richter nämlich, zu denen meine Bekannten gehören, haben nicht das Recht, endgültig freizusprechen, dieses Recht hat nur das oberste, für Sie, für mich und für uns alle ganz unerreichbare Gericht. Wie es dort aussieht, wissen wir nicht und wollen wir, nebenbei gesagt, auch nicht wissen. Das große Recht, von der Anklage zu befreien, haben also unsere Richter nicht, wohl aber haben sie das Recht, von der Anklage loszulösen. Das heißt, wenn Sie auf diese Weise freigesprochen werden, sind Sie für den Augenblick der Anklage entzogen, aber sie schwebt auch weiterhin über Ihnen und kann, sobald nur der höhere Befehl kommt, sofort in Wirkung treten. Da ich mit dem Gericht in so guter Verbindung stehe, kann ich Ihnen auch sagen, wie sich in den Vorschriften für die Gerichtskanzleien der Unterschied zwischen der wirklichen und der scheinbaren Freisprechung rein äußerlich zeigt. Bei einer wirklichen Freisprechung sollen die Prozeßakten vollständig abgelegt werden, sie verschwinden gänzlich aus dem Verfahren, nicht nur die Anklage, auch der Prozeß und sogar der Freispruch sind vernichtet, alles ist vernichtet. Anders beim scheinbaren Freispruch. Mit dem Akt ist keine weitere Veränderung vor sich gegangen, als daß er um die Bestätigung der Unschuld, um den Freispruch und um die Begründung des Freispruchs bereichert worden ist. Im übrigen aber bleibt er im Verfahren, er wird, wie es der ununterbrochene Verkehr der Gerichtskanzleien erfordert, zu den höheren Gerichten weitergeleitet, kommt zu den niedrigeren zurück und pendelt so mit größeren und kleineren Schwingungen, mit größeren und kleineren Stockungen auf und ab. Diese Wege sind unberechenbar. Von außen gesehen, kann es manchmal den Anschein bekommen, daß alles längst vergessen, der Akt verloren und der Freispruch ein vollkommener ist. Ein Eingeweihter wird das nicht glauben. Es geht kein Akt verloren, es gibt bei Gericht kein Vergessen. Eines Tages – niemand erwartet es – nimmt irgendein Richter den Akt aufmerksamer in die Hand, erkennt, daß in diesem Fall die Anklage noch lebendig ist, und ordnet die sofortige Verhaftung an. Ich habe hier angenommen, daß zwischen dem scheinbaren Freispruch und der neuen Verhaftung eine lange Zeit vergeht, das ist möglich, und ich weiß von solchen Fällen, es ist aber ebensogut möglich, daß der Freigesprochene vom Gericht nach Hause kommt und dort schon Beauftragte warten, um ihn wieder zu verhaften. Dann ist natürlich das freie Leben zu Ende.« »Und der Prozeß beginnt von neuem?« fragte K. fast ungläubig. »Allerdings«, sagte der Maler, »der Prozeß beginnt von neuem, es besteht aber wieder die Möglichkeit, ebenso wie früher, einen scheinbaren Freispruch zu erwirken. Man muß wieder alle Kräfte zusammennehmen und darf sich nicht ergeben.« Das letztere sagte der Maler vielleicht unter dem Eindruck, den K., der ein wenig zusammengesunken war, auf ihn machte. »Ist aber«, fragte K., als wolle er jetzt irgendwelchen Enthüllungen des Malers zuvorkommen, »die Erwirkung eines zweiten Freispruchs nicht schwieriger als die des ersten?« »Man kann«, antwortete der Maler, »in dieser Hinsicht nichts Bestimmtes sagen. Sie meinen wohl, daß die Richter durch die zweite Verhaftung in ihrem Urteil zuungunsten des Angeklagten beeinflußt werden? Das ist nicht der Fall. Die Richter haben ja schon beim Freispruch diese Verhaftung vorgesehen. Dieser Umstand wirkt also kaum ein. Wohl aber kann aus zahllosen sonstigen Gründen die Stimmung der Richter sowie ihre rechtliche Beurteilung des Falles eine andere geworden sein, und die Bemühungen um den zweiten Freispruch müssen daher den veränderten Umständen angepaßt werden und im allgemeinen ebenso kräftig sein wie die vor dem ersten Freispruch.« »Aber dieser zweite Freispruch ist doch wieder nicht endgültig«, sagte K. und drehte abweisend den Kopf. »Natürlich nicht«, sagte der Maler, »dem zweiten Freispruch folgt die dritte Verhaftung, dem dritten Freispruch die vierte Verhaftung, und so fort. Das liegt schon im Begriff des scheinbaren Freispruchs.« K. schwieg. »Der scheinbare Freispruch scheint Ihnen offenbar nicht vorteilhaft zu sein«, sagte der Maler, »vielleicht entspricht Ihnen die Verschleppung besser. Soll ich Ihnen das Wesen der Verschleppung erklären?« K. nickte. Der Maler hatte sich breit in seinen Sessel zurückgelehnt, das Nachthemd war weit offen, er hatte eine Hand daruntergeschoben, mit der er über die Brust und die Seiten strich. »Die Verschleppung«, sagte der Maler und sah einen Augenblick vor sich hin, als suche er eine vollständig zutreffende Erklärung, »die Verschleppung besteht darin, daß der Prozeß dauernd im niedrigsten Prozeßstadium erhalten wird. Um dies zu erreichen, ist es nötig, daß der Angeklagte und der Helfer, insbesondere aber der Helfer in ununterbrochener persönlicher Fühlung mit dem Gericht bleibt. Ich wiederhole, es ist hierfür kein solcher Kraftaufwand nötig wie bei der Erreichung eines scheinbaren Freispruchs, wohl aber ist eine viel größere Aufmerksamkeit nötig. Man darf den Prozeß nicht aus den Augen verlieren, man muß zu dem betreffenden Richter in regelmäßigen Zwischenräumen und außerdem bei besonderen Gelegenheiten gehen und ihn auf jede Weise sich freundlich zu erhalten suchen; ist man mit dem Richter nicht persönlich bekannt, so muß man durch bekannte Richter ihn beeinflussen lassen, ohne daß man etwa deshalb die unmittelbaren Besprechungen aufgeben dürfte. Versäumt man in dieser Hinsicht nichts, so kann man mit genügender Bestimmtheit annehmen, daß der Prozeß über sein erstes Stadium nicht hinauskommt. Der Prozeß hört zwar nicht auf, aber der Angeklagte ist vor einer Verurteilung fast ebenso gesichert, wie wenn er frei wäre. Gegenüber dem scheinbaren Freispruch hat die Verschleppung den Vorteil, daß die Zukunft des Angeklagten weniger unbestimmt ist, er bleibt vor dem Schrecken der plötzlichen Verhaftungen bewahrt und muß nicht fürchten, etwa gerade zu Zeiten, wo seine sonstigen Umstände dafür am wenigsten günstig sind, die Anstrengungen und Aufregungen auf sich nehmen zu müssen, welche mit der Erreichung des scheinbaren Freispruchs verbunden sind. Allerdings hat auch die Verschleppung für den Angeklagten gewisse Nachteile, die man nicht unterschätzen darf. Ich denke hierbei nicht daran, das hier der Angeklagte niemals frei ist, das ist er ja auch bei der scheinbaren Freisprechung im eigentlichen Sinne nicht. Es ist ein anderer Nachteil. Der Prozeß kann nicht stillstehen, ohne daß wenigstens scheinbare Gründe dafür vorliegen. Es muß deshalb im Prozeß nach außen hin etwas geschehen. Es müssen also von Zeit zu Zeit verschiedene Anordnungen getroffen werden, der Angeklagte muß verhört werden, Untersuchungen müssen stattfinden und so weiter. Der Prozeß muß eben immerfort in dem kleinen Kreis, auf den er künstlich eingeschränkt worden ist, gedreht werden. Das bringt natürlich gewisse Unannehmlichkeiten für den Angeklagten mit sich, die sie sich aber wiederum nicht zu schlimm vorstellen dürfen. Es ist ja alles nur äußerlich, die Verhöre beispielsweise sind also nur ganz kurz, wenn man einmal keine Zeit oder keine Lust hat, hinzugehen, darf man sich entschuldigen, man kann sogar bei gewissen Richtern die Anordnungen für eine lange Zeit im voraus gemeinsam festsetzen, es handelt sich im Wesen nur darum, daß man, da man Angeklagter ist, von Zeit zu Zeit bei seinem Richter sich meldet.« "
     

    8. Kapitel: Kaufmann Block. Kündigung des Advokaten
    "Endlich hatte sich K. doch entschlossen, dem Advokaten seine Vertretung zu entziehen." Als er ankommt, trifft er den Kaufmann Block, der ihm weitere Einblicke in die groteske "andere" Gerichtswelt verschafft.  K. erfährt, dass Block noch fünf weitere Winkeladvokaten beschäftigt und sogar noch an einen sechsten denkt. Sein ganzes Geld habe er in seinen "anderen" Prozess gesteckt. Er erzählt, dass die Leute abergläubische Zeichen entwickeln, z.B. könne man an den Lippen K.s sehen, dass er bald verurteilt werden würde.
        Beim Advokaten erörtert dieser zunächst Lenis Verhalten, um dann die Merkwürdigkeit zu verkünden, dass die Angeklagten durch das Verfahren schöner würden: "Aber der Advokat fragte: »War sie wieder zudringlich?« »Zudringlich?« fragte K. »Ja«, sagte der Advokat, er lachte dabei, bekam einen Hustenanfall und begann, nachdem dieser vergangen war, wieder zu lachen. »Sie haben doch wohl ihre Zudringlichkeit schon bemerkt?« fragte er und klopfte K. auf die Hand, die dieser zerstreut auf das Nachttischchen gestützt hatte und die er jetzt rasch zurückzog. »Sie legen dem nicht viel Bedeutung bei«, sagte der Advokat, als K. schwieg, »desto besser. Sonst hätte ich mich vielleicht bei Ihnen entschuldigen müssen. Es ist eine Sonderbarkeit Lenis, die ich ihr übrigens längst verziehen habe und von der ich auch nicht reden würde, wenn Sie nicht eben jetzt die Tür abgesperrt hätten. Diese Sonderbarkeit, Ihnen allerdings müßte ich sie wohl am wenigsten erklären, aber Sie sehen mich so bestürzt an und deshalb tue ich es, diese Sonderbarkeit besteht darin, daß Leni die meisten Angeklagten schön findet. Sie hängt sich an alle, liebt alle, scheint allerdings auch von allen geliebt zu werden; um mich zu unterhalten, erzählt sie mir dann, wenn ich es erlaube, manchmal davon. Ich bin über das Ganze nicht so erstaunt, wie Sie es zu sein scheinen. Wenn man den richtigen Blick dafür hat, findet man die Angeklagten wirklich oft schön. Das allerdings ist eine merkwürdige, gewissermaßen naturwissenschaftliche Erscheinung. Es tritt natürlich als Folge der Anklage nicht etwa eine deutliche, genau zu bestimmende Veränderung des Aussehens ein. Es ist doch nicht wie bei anderen Gerichtssachen, die meisten bleiben in ihrer gewöhnlichen Lebensweise und werden, wenn sie einen guten Advokaten haben, der für sie sorgt, durch den Prozeß nicht behindert. Trotzdem sind diejenigen, welche darin Erfahrung haben, imstande, aus der größten Menge die Angeklagten, Mann für Mann, zu erkennen. Woran? werden Sie fragen. Meine Antwort wird Sie nicht befriedigen. Die Angeklagten sind eben die Schönsten. Es kann nicht die Schuld sein, die sie schön macht, denn – so muß wenigstens ich als Advokat sprechen – es sind doch nicht alle schuldig, es kann auch nicht die richtige Strafe sein, die sie jetzt schon schön macht, denn es werden doch nicht alle bestraft, es kann also nur an dem gegen sie erhobenen Verfahren liegen, das ihnen irgendwie anhaftet. Allerdings gibt es unter den Schönen auch besonders schöne. Schön sind aber alle, selbst Block, dieser elende Wurm.«"
        K. begründet den Entzug: "Als ich allein war, unternahm ich nichts in meiner Sache, aber ich fühlte es kaum, jetzt dagegen hatte ich einen Vertreter, alles war dafür eingerichtet, daß etwas geschehe, unaufhörlich und immer gespannter erwartete ich Ihr Eingreifen, aber es blieb aus. Ich bekam von Ihnen allerdings verschiedene Mitteilungen über das Gericht, die ich vielleicht von niemandem sonst hätte bekommen können. Aber das kann mir nicht genügen, wenn mir jetzt der Prozeß, förmlich im geheimen, immer näher an den Leib rückt.« "
        Der Advokat rechtfertigt sich mit seiner Erfahrung und führt dann vor, wie er Block gefügig gemacht hat und erniedrigen kann.
        [Dieses Kapitel blieb unvollendet]
     

    9. Kapitel: Im Dom - Türhüter
    Im Dom trifft K. den Gefängniskaplan, der ihm vom Türhüter erzählt:

     »In dem Gericht täuschst du dich«, sagte der Geistliche, »in den einleitenden Schriften zum Gesetz heißt es von dieser Täuschung: Vor dem Gesetz steht ein Türhüter. Zu diesem Türhüter kommt ein Mann vom Lande und bittet um Eintritt in das Gesetz. Aber der Türhüter sagt, daß er ihm jetzt den Eintritt nicht gewähren könne. Der Mann überlegt und fragt dann, ob er also später werde eintreten dürfen. ›Es ist möglich‹, sagt der Türhüter, ›jetzt aber nicht‹. Da das Tor zum Gesetz offensteht wie immer und der Türhüter beiseite tritt, bückt sich der Mann, um durch das Tor in das Innere zu sehen. Als der Türhüter das merkt, lacht er und sagt: ›Wenn es dich so lockt, versuche es doch, trotz meinem Verbot hineinzugehen. Merke aber: Ich bin mächtig. Und ich bin nur der unterste Türhüter. Von Saal zu Saal stehen aber Türhüter, einer mächtiger als der andere. Schon den Anblick des dritten kann nicht einmal ich mehr vertragen.‹ Solche Schwierigkeiten hat der Mann vom Lande nicht erwartet, das Gesetz soll doch jedem und immer zugänglich sein, denkt er, aber als er jetzt den Türhüter in seinem Pelzmantel genauer ansieht, seine große Spitznase, den langen, dünnen, schwarzen, tartarischen Bart, entschließt er sich doch, lieber zu warten, bis er die Erlaubnis zum Eintritt bekommt. Der Türhüter gibt ihm einen Schemel und läßt ihn seitwärts von der Tür sich niedersetzen. Dort sitzt er Tage und Jahre. Er macht viele Versuche, eingelassen zu werden und ermüdet den Türhüter durch seine Bitten. Der Türhüter stellt öfters kleine Verhöre mit ihm an, fragt ihn nach seiner Heimat aus und nach vielem anderen, es sind aber teilnahmslose Fragen, wie sie große Herren stellen, und zum Schlusse sagt er ihm immer wieder, daß er ihn noch nicht einlassen könne. Der Mann, der sich für seine Reise mit vielem ausgerüstet hat, verwendet alles, und sei es noch so wertvoll, um den Türhüter zu bestechen. Dieser nimmt zwar alles an, aber sagt dabei: ›Ich nehme es nur an, damit du nicht glaubst, etwas versäumt zu haben.‹ Während der vielen Jahre beobachtet der Mann den Türhüter fast ununterbrochen. Er vergißt die anderen Türhüter, und dieser erste scheint ihm das einzige Hindernis für den Eintritt in das Gesetz. Er verflucht den unglücklichen Zufall in den ersten Jahren laut, später, als er alt wird, brummt er nur noch vor sich hin. Er wird kindisch, und da er in dem jahrelangen Studium des Türhüters auch die Flöhe in seinem Pelzkragen erkannt hat, bittet er auch die Flöhe, ihm zu helfen und den Türhüter umzustimmen. Schließlich wird sein Augenlicht schwach, und er weiß nicht, ob es um ihn wirklich dunkler wird oder ob ihn nur die Augen täuschen. Wohl aber erkennt er jetzt im Dunkel einen Glanz, der unverlöschlich aus der Türe des Gesetzes bricht. Nun lebt er nicht mehr lange. Vor seinem Tode sammeln sich in seinem Kopfe alle Erfahrungen der ganzen Zeit zu einer Frage, die er bisher an den Türhüter noch nicht gestellt hat. Er winkt ihm zu, da er seinen erstarrenden Körper nicht mehr aufrichten kann. Der Türhüter muß sich tief zu ihm hinunterneigen, denn die Größenunterschiede haben sich sehr zuungunsten des Mannes verändert. ›Was willst du denn jetzt noch wissen?‹ fragt der Türhüter, ›du bist unersättlich.‹ ›Alle streben doch nach dem Gesetz‹, sagt der Mann, ›wie kommt es, daß in den vielen Jahren niemand außer mir Einlaß verlangt hat?‹ Der Türhüter erkennt, daß der Mann schon am Ende ist, und um sein vergehendes Gehör noch zu erreichen, brüllt er ihn an: ›Hier konnte niemand sonst Einlaß erhalten, denn dieser Eingang war nur für dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn.‹«
        Josef K. am Ende der Diskussion mit dem Gefängniskaplan: "Die Lüge wird zur Weltordnung gemacht"
     

    10. Kapitel: Ende
    "Am Vorabend seines einunddreißigsten Geburtstages – es war gegen neun Uhr abends, die Zeit der Stille auf den Straßen – kamen zwei Herren in K.s Wohnung. In Gehröcken, bleich und fett, mit scheinbar unverrückbaren Zylinderhüten. Nach einer kleinen Förmlichkeit bei der Wohnungstür wegen des ersten Eintretens wiederholte sich die gleiche Förmlichkeit in größerem Umfange vor K.s Tür. Ohne daß ihm der Besuch angekündigt gewesen wäre, saß K., gleichfalls schwarz angezogen, in einem Sessel in der Nähe der Türe und zog langsam neue, scharf sich über die Finger spannende Handschuhe an, in der Haltung, wie man Gäste erwartet. Er stand gleich auf und sah die Herren neugierig an. »Sie sind also für mich bestimmt?« fragte er. Die Herren nickten, einer zeigte mit dem Zylinderhut in der Hand auf den anderen. K. gestand sich ein, daß er einen anderen Besuch erwartet hatte. ... ... ...
        Die Herren setzten K. auf die Erde nieder, lehnten ihn an den Stein und betteten seinen Kopf obenauf. Trotz aller Anstrengung, die sie sich gaben, und trotz allem Entgegenkommen, das ihnen K. bewies, blieb seine Haltung eine sehr gezwungene und unglaubwürdige. Der eine Herr bat daher den anderen, ihm für ein Weilchen das Hinlegen K.s allein zu überlassen, aber auch dadurch wurde es nicht besser. Schließlich ließen sie K. in einer Lage, die nicht einmal die beste von den bereits erreichten Lagen war. Dann öffnete der eine Herr seinen Gehrock und nahm aus einer Scheide, die an einem um die Weste gespannten Gürtel hing, ein langes, dünnes, beiderseitig geschärftes Fleischermesser, hielt es hoch und prüfte die Schärfe im Licht. Wieder begannen die widerlichen Höflichkeiten, einer reichte über K. hinweg das Messer dem anderen, dieser reichte es wieder über K. zurück. K. wußte jetzt genau, daß es seine Pflicht gewesen wäre, das Messer, als es von Hand zu Hand über ihm schwebte, selbst zu fassen und sich einzubohren. Aber er tat es nicht, sondern drehte den noch freien Hals und sah umher. Vollständig konnte er sich nicht bewähren, alle Arbeit den Behörden nicht abnehmen, die Verantwortung für diesen letzten Fehler trug der, der ihm den Rest der dazu nötigen Kraft versagt hatte. Seine Blicke fielen auf das letzte Stockwerk des an den Steinbruch angrenzenden Hauses. Wie ein Licht aufzuckt, so fuhren die Fensterflügel eines Fensters dort auseinander, ein Mensch, schwach und dünn in der Ferne und Höhe, beugte sich mit einem Ruck weit vor und streckte die Arme noch weiter aus. Wer war es? Ein Freund? Ein guter Mensch? Einer, der teilnahm? Einer, der helfen wollte? War es ein einzelner? Waren es alle? War noch Hilfe? Gab es Einwände, die man vergessen hatte? Gewiß gab es solche. Die Logik ist zwar unerschütterlich, aber einem Menschen, der leben will, widersteht sie nicht. Wo war der Richter, den er nie gesehen hatte? Wo war das hohe Gericht, bis zu dem er nie gekommen war? Er hob die Hände und spreizte alle Finger.
    Aber an K.s Gurgel legten sich die Hände des einen Herrn, während der andere das Messer ihm tief ins Herz stieß und zweimal dort drehte. Mit brechenden Augen sah noch K., wie die Herren, nahe vor seinem Gesicht, Wange an Wange aneinandergelehnt, die Entscheidung beobachteten. »Wie ein Hund!« sagte er, es war, als sollte die Scham ihn überleben."
     

    Zusammenfassende Eindrücke von der Erlanger Inszenierung

    Die Inszenierung ist eine repräsentative Werkwiedergabe trotz der notwendigen Verkürzung gelungen (9 Stunden Hörbuchzeit auf zwei Stunden und 15 Minuten Darstellung), die den Roman in wesentlichen Teilen vermittelte. Sehr eindrucksvoll fanden wir den Einstieg mit der Türhüterparabel, an der alle SchauspielerInnen am Parkettrand verteilt, beteiligt waren. Das Geheimnisvolle dieser Parabel wurde durch verständliches Flüstern unmittelbar zum Ausdruck gebracht. Sehr eindringlich und drastisch wurde die durchgängige beziehungslose Sexualisierung dargestellt.

        Einige Abweichungen und Extras verstanden wir nicht und sie irritierten uns eher, weil sie ablenkten. So wurde z.B. in den "Aufzug" zum 6. Kap (Abschnitt Onkel) ein tschechischer Schlager - den der Onkel und K., unbeschwert und volle Lebensfreude vermittelnd, sangen und tanzten - an die Stelle der Taxifahrt eingebaut. Der Regie hat es gefallen, den 8 Zeiler auf Papier von Schauspielern ins Publikum werfen zu lassen - auf tschechisch, ohne deutsche Übersetzung etwa auf der Rückseite, so dass man es auch noch im Nachhinein hätte verstehen können. Was die operettenhafte Einlage für eine Funktion haben könnte, muss sich das Publikum selbst erschließen. Als profane Deutung bietet sich an, dass die Inszenierung ein Kontrastprogramm zur Düsternis der Gegenwart suchte und in dieser Einlage fand: so schön könnte es sein ... wenn nicht dieser blöde Prozess wäre. Ähnlich unverständlich waren die mehrfachen Geburtstagsgratulationen zwischen den Geburtstagen, offenbar auch eine Neukreation im Erlanger Drehbuch. Nachdem der Prozess genügend Rätsel enthält, hätte es keiner weiterer der Inszenierung bedurft. Irritierend erlebten wir auch, da die Frauen im Prozess ja eine ganz besondere Rolle spielen, dass die Rolle des Direktorstellvertreters mit einer Frau besetzt war. Was will uns die Inszenierung damit sagen: Na ja, vielleicht gar nichts.
        Das  Ein- und Auswickeln in das dünne weiße Papier führte zur direkten Assoziation der Verwicklung, die für den Prozess gut passt. Ziehen und Neubeschriften der Papierstreifen hingegen erschienen als Aufzugs- und Zeitmarken im Gang der Handlung ebenfalls sinnig.

        Die schauspielerische Leistung über 145 Minuten und Inszenierung wurde mit langem Beifall vom Publikum mit vielen jungen Menschen entsprechend honoriert.


    Ende Eindrücke Erlanger Inszenierung

    Der Roman und seine Deutung - Umgang mit dem Irrationalen, Surrealen, Absurden und Unfassbaren

    Der Problem oder der Koan  K.s  und seine Lösung lautet:
    Wie kann man ein aufgezwungenes, willkürliches Spiel des Lebens gewinnen, dessen Züge und Regeln einem unbekannt sind?
    Die Lösung ist eben so einfach wie schwer: man spielt es nicht mit und sprengt damit den Bezugsrahmen des Systems -
    sonst verliert man, im schlimmsten Falle sogar sein Leben, wie K., der abgemurkst wird wie ein Hund, einfach so, sinnlos.

    Zusammenfassung
    Kafkas Werk ist eine Fundgrube und Herausforderung für PsychologInnen. Wir haben uns lange gefragt, wie man den Prozess verstehen kann und konnten uns zunächst nicht einigen. S. glaubte nach intensiver Beschäftigung einen Schlüssel gefunden zu haben, nämlich - unabhängig von Brod - dessen Gewissenslösung, für die einiges spricht. Die zunächst tiefe Zufriedenheit mit dieser Lösung währte aber nur einen knappen Tag, dann verwarf sie S. wieder. Zu viele Fragen blieben mit dieser Lösung für ihn offen. Aus der Interpretationsnot ergab sich noch einmal eine gründlichere Auseinandersetzung mit dem Problem der Kunstinterpretation und Kunstkritik. Diese kritischen Betrachtungen im Hinterkopf versuchte S. einen Zugang über die Deutung der Türhüterparabel, die von Kafka sogar als eigene Erzählung freigegeben wurde ("Vor dem Gesetz"), wodurch ihr vielleicht eine Schlüsselrolle zukommt, die vielleicht einen Hauptzugang für die Interpretation eröffnet.

        Der nächste Schritt war dann, einige wichtig erscheinende literarischen Fakten zusammenzutragen, um mit ihrer Hilfe unter Zugrundelegung des Hauptzugangsschlüssels aus der Deutung der Türhüterparabel die Interpretationsbasis zu erweitern. Die literarischen Fakten, eine Art Grundgerüst, sollte nun ermöglichen, den Prozess zu deuten. Aber auch das führte nicht so richtig weiter, weil es auf viele Fragen keine befriedigende Antwort gab. Der Prozess war mit unserem rationalen Ansatz  nicht zu deuten. So dämmerte es uns allmählich: so geht es nicht: Rationalität, Vernunft, Logik, gesunder Menschenverstand, Erfahrung, Recht und Ordnungsvorstellungen scheitern. Erst später kam uns die Idee: vielleicht ist das gerade die Botschaft des Prozesses. Noch radikaler und konsequenter wäre indessen, die Suche nach Verstehen und Schlüssel aufzugeben, denn nicht alles, was nach Bedeutung verlangt, muss auch eine haben, Kafka hat vielleicht "nur" seine inneren Bilder und Tagträume verbunden, ohne sich um Sinn oder Bedeutung zu kümmern.

        Im Laufe unserer letztlich nicht befriedigenden Deutungsversuche verstärkte sich die Hypothese, dass der ganze Ansatz unserer Verständnissuche falsch sein könnte. Denn nach Verstehen und einem Schlüssel suchen setzt schon voraus, dass es einen solchen "gibt" bzw., schwächer formuliert, man einen solchen finden, kreieren, konstruieren kann. Aber warum sollte es einen rationalen Zugang zum Verstehen, einen solchen Schlüssel geben? Ist nicht der Prozess gerade ein Musterbeispiel dafür, dass es mit Rationalität, Vernunft, gesundem Menschenverstand gerade nicht geht? Ja, im Gegenteil, die Situation sogar verschlechtert? Vernunft, Logik, gesunder Menschenverstand, Erfahrung, Appelle an Recht und Ordnung versagen im Prozess. Warum sollte der Prozess also verstanden werden können mit den üblichen Mitteln? Ist nicht gerade seine Hauptbotschaft, das es eine andere Welt, die Welt des Irrationalen, Surrealen, Absurden und Unfassbaren gibt, die eben nicht normal, nicht üblich, nicht vernünftig, nicht logisch, nicht empirisch, nicht rechtmäßig, nicht zweckmäßig funktioniert - natürlich vom rationalen Standpunkt aus bewertet.

        So stellte sich abschließend die Kafkaische Gretchenfrage: wie interpretiert man "Irrationales, Surreales, Absurdes und Unfassbares", das Dali in seiner Unabhängigkeitserklärung der Phantasie und Erklärung der Rechte des Menschen auf seine Verrücktheit so verteidigt hat? Wie interpretiert man rational nicht Zugängliches? Wie versteht man Irrationales? Wir suchen also nach neuen Wegen zum Verstehen. Nun zeigt uns aber gerade der Prozess, dass Suchen sehr falsch und vergeblich sein kann. Denn K.s Streben zeigt einen einzigen, aber vergeblichen und erfolglosen Suchprozess, wenn er ihn auch immer wieder leugnet oder bagatellisiert. Dies im Kontrast zu der Tatsache, dass dem Suchen im Prozess entscheidende Bedeutung zukommt. Aber es müsste ein anderes Suchen als das gewöhnliche und uns vertraute Suchen sein, wenn man eine Lösung für am Leben bleiben sucht, denn das übliche, gewöhnliche, rationale Suchen führt hier "nur" zum Sterben wie ein Hund nach bereits einem knappen Jahr.

        Wie könnte es also gehen, welche Lösungsmöglichkeiten haben wir? (1) Eine Möglichkeit und Lösung ist sicher die Aufgabe, dass Irrationale, Surreale, Absurde und Unfassbare rational verstehen zu wollen. Suche nicht nach verstehen und Erklärungen, gibt es auf, lasse los und anerkenne die Aporie. (2) Man muss nicht unbedingt rational verstehen, um zu gewinnen und zu überleben. Nimm das Irrationale, Surreale, Absurde und Unfassbare wahr, sieh hin, lass es auf Dich wirken und handle nach Deiner Intuition, aber handle und ambivalentiere nicht herum. (3)  R. ging einen anderen Interpretationsweg, in dem sie ergebnisorientiert, den Kern der Sache wie folgt erfasst: Wer sich mit "normalen" Mitteln gegen Willkür zu wehren versucht oder sich auf ein Willkürsystem einlässt, muss zwangsläufig scheitern. Man muss also das System, den üblichen Rahmen, verlassen, um zu einer Lösung zu gelangen, ganz so, wie es die GestaltpsychologInnen in ihren Problemanalysen (> Problemlösung 2. Ordnung) herausfanden und vorschlugen.



    Der Weg zum Verständnis im einzelnen

    Deutung der Türhüterparabel oder des Kafkaesken Koans im Kontext des Prozesses
    Es geht hier nicht um das gewöhnliche Gesetz, das man nachschlagen und einsehen kann, sondern um das persönliche Gesetz, das man im Leben durch sein Tun und Lassen vollzieht oder erfüllt. Es ereignet sich mit dem Leben und es kann daher nicht zwischendurch einfach mal so eingesehen werden, es sei denn, man glaubte an Hellseherei. Das ergibt sich einerseits aus dem Ende der Parabel, andererseits auch aus der zweifachen Gesetzeskonstruktion im Prozess: das gewöhnliche und das andere (Ethik, Moral), persönliche (Gewissen). Das wird auch gleich zu Beginn der Parabel schon offenbar, indem der Türhüter klar macht, man darf nicht hinein, kann es nicht betreten, viele und immer mächtigere Türhüter (Logik, Naturgesetze) wachten angeblich darüber. Der nach Einsicht Strebende Mann vom Lande verbringt viele Jahre bis an sein Lebensende damit, in das Gesetz eingelassen zu werden. Erst beim Sterben wird ihm erklärt, dass dieser Eingang ausschließlich für ihn bestimmt war. Mit seinem Tod, so brüllt der Türhüter, werde der Eingang geschlossen. Ist also ein Leben zu Ende, hat sich sein Gesetz erfüllt.
        Die Türhüterparabel ist eine doppelte Absage: erstens an alle Esoterik, Präkognition und Hellseherei aber auch an eine zu unkritische, naive oder übertriebene Außenorientierung (Überanpassung, Opportunismus). Die Kafkaeske Botschaft lautet: Lebe! In Deinem Tun und Lassen erfüllt sich Dein Gesetz, Du kannst es nicht schauen und Du findest es nicht außen. Daraus ergibt sich zwanglos der Schluß: Du findest dieses Gesetz nur in Dir, weil es Deines ist. Suchst Du am falschen Ort, wirst Du es nicht finden und scheitern. Um Dich selbst zu finden, brauchst Du Mut. Dazu gehört, Deine blinden Flecken und Scheuklappen abzulegen, Du musst Dich sehen lernen, wie Du wirklich bist: Erkenne Dich selbst!  Existenzialistisch gesehen bist Du Dein Tun und Lassen und sonst nichts. Setze Dich auseinander mit Deinem Tun und Lassen, übernimm Verantwortung. Wer nur wartet, bittelt und bettelt, jammert und klagt, sich hinhalten lässt, das Heil von außen erwartet, sich nicht lern- und entwicklungsfähig zeigt, lebt eigentlich gar nicht.
        Wie steht Josef K. dazu? Er versteht die Geschichte nicht und sieht den Mann vom Lande, der vergeblich wartet und nicht eingelassen wird, getäuscht. Und das wird er auch (der Gefängniskaplan sieht es anders) insofern, als man ihn nicht korrekt und vollständig informiert. Er wirft dem  Türhüter vor, dass er ja weiss, dass der Mann vom Lande nicht eingelassen wird und dass er den Eingang, der nur für ihn bestimmt war, schließen wird, wenn er tot ist. Das Warten ist also nutzlos. Der Mann vom Lande hat ein Koan vor sich, dass er nicht kennt, allenfalls erschließen oder erahnen kann. Für uns Außenstehende, die die Geschichte kennen, ist es natürlich einfach. Für den Verstrickten jedoch nicht. Er muss, um das Problem zu lösen, sein geistiges Gefängnis verlassen, über seinen Bezugsrahmen hinausgehen. K. kann den Sinn der Geschichte nicht erkennen: verlasse Dich nicht auf das Schicksal oder andere, die nicht auf die Welt gekommen sind, um Deine Angelegenheiten zu fördern. Bestimme und denke selbst (Sapere aude!), verlasse Dich nicht zu sehr auf andere.



    Einige literarische Fakten im Prozess

    Die ersten zwei Punkte sind aus der Türhüterparabel gewonnen und sollen als Interpretationsbasis dienen.

    Erstens: Es gibt ein persönliches Gesetz, für das Du selber zuständig bist und das Du in Dir selber suchen musst. Das wird allerdings nicht gesagt und ist keine allgemein verbreitete Lebensregel, sondern das muss man sozusagen selber rausfinden. Man erfährt hierbei aber keinerlei Hilfestellung. Aber man macht Erfahrungen und diese könnte und sollte man zum Lernen nutzen. Das konnte oder wollte der einfache Mann vom Lande nicht. Und so verrann sein Leben sinn- und nutzlos, weil er seinen Bezugsrahmen angesichts seiner Erfahrungen nicht zu sprengen vermochte. Und so bewahrheitet sich Fritz Riemanns interessante Sentenz: was wir erzwingen wollen, das zwingt uns nieder.

    Zweitens: Erfüllst Du Dein Gesetz, kannst Du frei und ohne (verfolgbare) Schuld sein -  oder auch nicht.
    Hier wird streng genommen kein literarisches Faktum benannt, sondern die erste Deutung der Türhüterparabel in Beziehung zum Prozessverlauf gesetzt.
    Die spannende Frage ist nun: lässt sich mit diesen Schlüsseln eine Interpretationsbasis zum Prozess finden? Die Schilderung K.s durch Kafka lässt keinerlei Schluss zu, dass er sich nicht ichgemäß verhält. Zwar zeigt er ein merkwürdiges beziehungsloses sexuelles Verhalten, alles und jede mitzunehmen, was geht, das problematisiert er aber nirgends. K.s. Selbstbild ist in Ordnung. K. erfüllt demnach sein Gesetz, ist aber trotzdem verhaftet und sogar dem Tode geweiht. So bleibt letztlich auch unklar, ob nicht auch ein völlig Schuldloser verfolgt werden könnte. So schmutzig und verkommen das andere Gerichtssystem geschildert wird, erscheint dies jederzeit möglich.

    Drittens: Erfüllst Du es oder auch nicht, kann das Schicksal plötzlich und überraschend zuschlagen. Diese Regel begründet die Willkür. Es gibt letztlich nichts, was einen sicher verschont. In beiden Fällen - erfüllt man sein Gesetz oder nicht -  kann man getroffen werden. Das Leben und Schicksal ist so gesehen ebenso gerecht wie ungerecht. Alles ist möglich. Keine Logik, kein Recht, kein Wohlverhalten kann einen sicher und zuverlässig schützen.
        Der Roman beginnt plötzlich und extrem kontrastierend zum 30. Geburtstag mit einer überraschenden und plötzlichen Merkwürdigkeit: zwei Männer, die sich als Wächter bezeichnen, eröffnen K. er sei verhaftet. Kein Haftbefehl, keine Vorhalte oder Gründe. Die Unverständlichkeit und auch Unüblichkeit, das Rätselhafte, Widersprüchliche, Absurde und Merkwürdige setzt gleich zu Beginn des Romans ein und zieht sich wie ein roter Faden durch den ganzen Roman.

    Viertens: Es kann Dir dabei Unverständliches, Unübliches, Rätselhaftes, Widersprüchliches, Absurdes und Merkwürdiges widerfahren, das Dir kreative Bewältigung abverlangt, wenn Du davon kommen, das "Spiel" gewinnen willst.
    Das erste, Unverständliches bis Merkwürdiges, zieht sich sehr drastisch von Anfang an durch den ganzen Roman, es charakterisiert ihn geradezu. Die kreative Bewältigung ist nirgendwo thematisiert. Sie kann nach Kafkas Darstellung nur durch angemessene Bewertung der Erfahrungen der Betroffenen erkannt oder erschlossen werden.

    Fünftens: Es geht um eine andere Schuld als die des gewöhnlichen Gesetzes. K. ist sich keinerlei Schuld bewusst, was vielleicht genau das tiefere Problem sein könnte, zumindest in Max Brods Deutung. Da er gegen kein "normales, gewöhnliches" Gesetz verstößt, kann es sich eigentlich nur um Verfehlungen allgemeinerer Art aus dem Feld der Ethik und Moral handeln. Darauf kommt er natürlich nicht, weil das nicht zum allgemeinen Wissen und allgemeiner Erfahrung seiner Zeit und Biographie gehört. Aber nicht zu seinem Selbstverständnis. Sein Selbstbild ist in Ordnung. Um also darauf zu kommen, hätte er den Bezugsrahmen seines allgemeinen Wissens, seiner persönlichen Erfahrung und Integrität sprengen müssen. Wir glauben nicht, dass es jemand auf der Welt gibt, dem dies hätte gelingen können. Kafka konstruiert etwas Unerfüllbares, das das Scheitern zwangsläufig nach sich zieht, wenn K. den aufgezwungenen Bezugsrahmen sprengt.

    Sechstens: K. kann wie niemand darauf kommen, worum es geht, weil die surreale andere und die reale Gerichtswelt in einer einzigen gleichen Realität dargestellt werden. Anders wäre es, wenn sämtliche Szenen des anderen Gerichts sich im Tagtraum oder Traum ereignet hätten, während sich sein Privat-, Familien- und Berufsleben parallel ereignet hätte. Dann hätte K. sich fragen können, was diese Phantasien, Tagträume und Träume denn bedeuten sollen oder könnten. Er hätte zum Seelsorger, Psychotherapeuten oder Psychiater gehen können, um den Bedeutungen auf die Spur zu kommen. Aber so hat Kafka den Roman eben nicht geschrieben. Er hat für die Romanfiguren eine einzige Realität verwendet, die von K. auch so erlebt wird. Das macht die Sache schwierig. Etwas sehr weit aus dem Deutungsfenster gelehnt: Vielleicht konnte Kafka deshalb diesen Roman nicht fertig schreiben, weil er in sich selber so widersprüchlich angelegt war und blieb. Andererseits: warum sollte ein Roman keine Widersprüche enthalten, warum sollte er eine bestimmte Botschaft haben, einer bestimmen Realität oder Logik folgen und nicht nur, wie Kafka es selbst beschrieb, seine inneren Bilder zum Ausdruck bringen? Von seiner Widersprüchlichkeit und der damit verbundenen Spannung, die zu immerwährenden Lösungsversuchen animiert, lebt der Prozess ja (und gar nicht schlecht).

    Siebtens: Die eigene Schuld wird von einem völlig absurd-verkommenen Gerichtswesen verfolgt. Es wird ein merkwürdiges, durch und durch absurd-verkommenes Gerichtswesen geschildert, wo es um andere als gewöhnliche Gerichtssachen geht, die die Verhafteten und Angeklagten aber nicht kennen. Sie sehen sich Rätseln und völlig undurchsichtigen Verfahrensregeln ausgesetzt. Sie sind, wie K., in ein "Spiel" verstrickt, dessen Grundlagen, Züge und Regeln ihnen verborgen sind. Und so verwenden die meisten all ihre Energie darauf, dieses Spiel zu durchschauen und zu ihren Gunsten zu beeinflussen - womit sie sich auf das Spiel eingelassen und damit schon verloren haben. Man kann nicht gegen ein mächtiges und geheimes System der Willkür gewinnen. Hinz und Kunz gegen den Geheimdienst können nur verlieren.
        Das andere Gerichtswesen wird in einer abstoßenden, erschreckenden Weise so geschildert, dass kein Mensch darauf käme, hier ginge es um Recht, Ethik oder Moral. Es wird unendliche Geduld und Unterwerfungsbereitschaft verlangt. Hinzu kommen extremer Kadavergehorsam, absolute Hierarchie, Brutalität und Grausamkeit. Diesem undurchsichtigen Schmuddelrecht entsprechen auch die Lokalitäten, wo diese Gerichte und Kanzleien angesiedelt sind: in schlechten Gegenden, heruntergewirtschafteten Häusern, auf renovierungsbedürftigen Dachböden mit schlechter Luft und Ausstattung. In dieser trockenen und undurchsichtigen Bürokratieatmosphäre kann es jeder mit jeder treiben, so dass die schlechte Luft mit beziehungsloser Sexualität nur so geschwängert scheint. Diese andere Gerichtsbarkeit erscheint als monströses Profanbordell  zwischen Tür und Angel. Wobei allerdings auch Josef K., wo es nur geht, mitmacht, nicht ohne in bewährter Machomanier seine eigene diesbezügliche "Verdorbenheit" in die Frauen hineinzuprojizieren, statt Verantwortung für die eigene Sexsucht in Nebenbeimanier zu übernehmen. Geht man sehr weit, könnte man phantasieren, diese andere Gerichtswelt ist ein großer Projektionsspiegel für die sexuellen Verfehlungen, die den Verhafteten und Angeklagten vorgeworfen werden, ohne dass dies jemals auch nur angedeutet wäre - was nicht zu Kafka passt.

    Achtens: Die Verhafteten und Angeklagten werden durch das Verfahren schöner. [Kap. 8] Auch diese Geschichte des Advokaten Huld erscheint doch reichlich abstrus. Aber immerhin: sie ist durch Kafka ausgesprochen. Das stützt die Deutung, man muss sich besser und ehrlicher wahrnehmen lernen. Die damit verbundene Auseinandersetzung führt dann zu einer Art inneren Läuterung, die sich in den Erscheinung, im Ausdruck widerspiegelt. Und dies wird durch Verfahren gefördert. Diese Deutung steht allerdings im Widerspruch zu den Fakten, wie Kafka seine Figuren, insbesondere K. schildert. Hier ist so gut wie nichts von einer inneren Suche und Auseinandersetzung zu bemerken. Alles, was man durch Kafkas Roman realgestützt sagen könnte ist: die tiefgreifende Unsicherheit - nirgendwo geschildert - und die damit verbundene existenzielle Erschütterung - von K. geleugnet - schönt die Betroffenen. Und das steht im Widerspruch mit der allgemeinen Erfahrung: so etwas schönt nicht, sondern zeichnet, macht ernst, bitter, zornig, resigniert, verzweifelt, verhärmt.

    Neuntens: K. ist einerseits rebellisch, andererseits ambivalent willfährig. K. gibt sich einerseits aufmüpfig, kritisch, will nicht einfach so hinnehmen, was man ihm da zumutet. Andererseits fügt er sich doch in das aufgezwungene Spiel und versucht, es mit fremder Hilfe zu seinen Gunsten zu beeinflussen. Er sagt dem Untersuchungsrichter die Meinung, wie er später auch seinem Advokaten das Mandat entzieht, weil er dessen Verteidigung genauso undurchsichtig, hinhaltend und wenig greifbar erlebt, wie das ganze Verfahren. Und doch bleibt er zwiespältig, ambivalent, rebellisch einerseits, willfährig mitspielend anderseits. Aber, die Schilderungen Kafkas lassen keinen Zweifel, dass K. das andere Gerichtswesen als Realität und nicht als Tagtraum, Traum oder als Psychose erlebt. K. ist nicht konsequent, sondern ambivalent hin- und hergerissen.

    Zehntens: Die Schreckensereignisse finden zu zwei Geburtstagen statt. Beginn und Ende jeweils am Geburtstag. Nach dem Aufstehen findet er nicht wie gewohnt - noch dazu an seinem 30. Geburtstag - sein Frühstück vor, sondern zwei Männer, die sich als seine Wächter entpuppen, weil er verhaftet sei. Ohne Haftbefehl, ohne Erklärung, allein durch die Macht des Faktischen. Und am Vorabend oder in der Nacht zu seinem 31. Geburtstag ist es im Morgengrauen in einem Steinbruch am Stadtrand zu Ende. Wie ein Hund ist K.s letzter Gedanke und er lässt das Abstechen willenlos geschehen.

    Einige Koans, Widersprüche und Paradoxien im Prozess

    1. K. wird an seinem 30. Geburtstag verhaftet, ohne Haftbefehl und ohne den Haftgrund zu erfahren.
    2. Obwohl K. "verhaftet" wurde, kann er sein "normales" Leben leben, in seine Bank gehen und dort arbeiten.
    3. "K. zwang sich auch zu antworten, dachte aber hauptsächlich daran, daß es am besten sein werde, Sonntag um neun Uhr vormittags hinzukommen, da zu dieser Stunde an Werktagen alle Gerichte zu arbeiten anfangen."
    4. K. wird ins Untersuchungsgericht bestellt ohne nähere Orientierung und damit zu ungewöhnlichem Suchen genötigt.
    5. K. wird zu keiner bestimmten Zeit ins Untersuchungsgericht bestellt, der Untersuchungsrichter wirft ihm aber vor, dass er nicht pünktlich um 9 Uhr dagewesen sei, sondern über eine Stunde Verspätung hatte.
    6. "Das Gericht will nichts von dir. Es nimmt dich auf, wenn du kommst, und es entläßt dich, wenn du gehst.« (Kap 9). Tatsache ist, K. wird verhaftet, es wird ermittelt, untersucht, angeklagt, verurteilt und sogar hingerichtet: aber das Gericht will nichts von Dir. Ein ganz offensichtlicher Widerspruch, den der Gefängniskaplan über die Türhütergeschichte verkündet, aber nicht bemerkt.
    7. Verteidiger sind eigentlich gar nicht vorgesehen, aber das Gericht duldet sie ( Kap. 7)
    8. Die Verhafteten und Angeklagten nehmen an einem Verfahren teil, dessen Grundlagen und Spielregeln ihnen unbekannt sind.
    9. Das Beispiel des Fabrikanten (7. Kap): "Wollen Sie nun aber zu Titorelli gehen? Auf meine Empfehlung hin wird er gewiß alles tun, was ihm möglich ist. Ich denke wirklich, Sie sollten hingehen. Es muß natürlich nicht heute sein, einmal, gelegentlich. Allerdings sind Sie – das will ich noch sagen – dadurch, daß ich Ihnen diesen Rat gebe, nicht im geringsten verpflichtet, auch wirklich zu Titorelli hinzugehen. Nein, wenn Sie Titorelli entbehren zu können glauben, ist es gewiß besser, ihn ganz beiseite zu lassen. Vielleicht haben Sie schon einen ganz genauen Plan, und Titorelli könnte ihn stören. Nein, dann gehen Sie natürlich auf keinen Fall hin! Es kostet gewiß auch Überwindung, sich von einem solchen Burschen Ratschläge geben zu lassen. Nun, wie Sie wollen. Hier ist das Empfehlungsschreiben und hier die Adresse.«"
    10. Man muss von selbst auf etwas kommen ohne jede Hilfe - Stochern im Nebel, Schicksalslotterie.




    Kafkaeske Sprachspiele (brainstorming)
    1. Das Spiel mit dem Ungewöhnlichen gewöhnlich dargestellt (Beginn, ähnlich wie in der Verwandlung, ungewöhnliche Eröffnung von einem Verfahren, ungewöhnliche Verhaftung, die ihn frei lässt)
    2. Das Spiel mit dem Unfassbaren selbstverständlich dargestellt
    3. Das Spiel mit dem Überraschenden normal dargestellt
    4. Das Spiel mit Nebensächlichen ausführlich dargestellt
    5. Das Spiel mit dem Unerklärlichen
    6. Das Spiel mit den Andeutungen
    7. Das Spiel mit Ambivalenzen, Widersprüchen und Paradoxien.
    8. Das Spiel mit mangelnder Information und Anregung zur Projektion
    9. Das Spiel mit Rätseln: warum nur?
    10. Das Spiel mit Unverständlichem
    11. Das Spiel mit dem Absurden
    12. Das Spiel mit dem Alltäglichen-Gewöhnlichen besonders dargestellt und ausgewalzt
    13. Das Spiel mit der Schaf-Opfer-Rolle: ertragen, hinnehmen, sich drein schicken.
    14. Das Spiel mit den Schicksalsmächten
    15. Das Spiel mit der Spannung.




    Existenzielle Themen  (brainstorming)
    1. Umgang mit und Bewältigung von Überraschungen
    2. Schuld und Sühne
    3. Verurteilung, Sterben und Tod
    4. Eine andere (persönliche) Gerichtswelt neben der gewöhnlichen.
    5. Ambivalenz, Zwiespalt, hin- und hergerissen sein
    6. Ausgeliefert und ohnmächtig sein
    7. Und immer wieder das Thema Macht, wer ist oben, wer ist unten, im Großen wie im Kleinen
    8. Absurdes, unverständliches Geschehen einfach so hinnehmen
    9. Der Mensch als willfähriges Schaf eines aufgedrängten Schicksals
    10. Die Gesellschaft als anonymes Räderwerk anonym-willkürklicher Mächte
    11. Die große ungreifbare Macht im Hintergrund
    12. Ein Rädchen im Getriebe
    13. Übermacht der Bürokratie
    14. Isolation, allein sein
    15. Erotik und Sexualität nebenbei, unpersönlich und wo sich eine Gelegenheit ergibt
    16. Beziehungs- und Bindungslosigkeit
    17. Ordnung, die aufrechterhalten oder wiederherzustellen ist
    18. Ordnung, die um ihrer selbst willen, ohne Sinn und Gerechtigkeit vollzogen wird und gerade hierdurch zur Unordnung wird
    19. Sinnlose, brutale Gewalt (5. Kapitel der Prügler)
    20. Die Banalität des Bösen verwoben mit der Banalität des Absurden und Rätselhaften
    21. Sadismus und Grausamkeit (offen und verdeckt)
    22. Strategie und Taktik, sich gegen die anonyme Macht zu behaupten bzw. Gewogenheit zu erreichen: Informanten, Fürsprecher, Bürgen, Verbündete, möglichst einflussreiche.
    23. Verlassen auf andere, darunter Angeber und Wichtigtuer mit angeblich guten Verbindungen (z.B. der Maler: "»Die scheinbare Freisprechung und die Verschleppung«, sagte der Maler. »Es liegt an Ihnen, was Sie davon wählen. Beides ist durch meine Hilfe erreichbar,..." 7. Kap.)
    24. Falsche Freunde




    Brainstorming Psychopathologie im Prozess
    • Zwiespalt zwischen Selbstbehauptung, Rebellion und willfähriger Anpassung, Gefügigkeit.
    • Der Schwächeanfall (Angst) Ks.
    • Vollständige beziehungslose Sexualisierung.
    • Die "Hinrichtung", besser Abmurksung, einfach so über sich ergehen lassen, sterben "wie ein Hund".
    • Kadavergehorsam, absolute Hierarchie, Brutalität und Grausamkeit.
    • Gesellschaftliche und rechtsstaatliche Verwahrlosung durch eine pervertierte "andere" Gerichtsbarkeit.
    • Lebensuntüchtigkeit angesichts willkürlichen Machtmissbrauchs einer geheimbürokratischen Inquisition: hier wäre Brecht gefragt: „Wenn Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht!“  Aber richtig, möchten wir hinzufügen.




    Literatur (Auswahl)


     

    • Brod, Max (1966) Über Franz Kafka. [Eine Biographie, Franz Kafkas Glauben und Lehre, Verzweiflung und Erlösung im Werk Franz Kafkas] Frankfurt: Fischer.
    • Kafka, Franz (2006) Der Prozess. In (11-144): Sämtliche Werke. Bath: Parragon (Lizenz Melzer)
    • Der Prozess im Gutenbergprojekt.
    • Hörbuch Der Prozess : https://www.theateraufcd.de/mp3/Kafka/Der_Prozess.mp3.
    • Politzer, Heinz (1965, Hrsg.). Das Kafka-Buch. Frankfurt: Fischer.
    • Schmitz, Walter (2001). Tripolis Praga. Die Prager Moderne um 1900, Katalogbuch. Thelem: Universitätsverlag. ISBN-10: 3933592917. ISBN-13: 978-3933592910
    • Wagenbach, Klaus (1968). Kafka. Reinbek: Rowohlt.


    Links (Auswahl: beachte)
    Geänderte URL ohne Weiterleitung wurden entlinkt.

    • Trailer zum Prozess auf youtube. * Theater Info * Text zur Premiere.
    • Der Prozess im Projekt Gutenberg.
    • Die Frauen im Prozess:
      • https://www.teachsam.de/deutsch/d_literatur/d_aut/kaf/prozess/kaf-prozess_6_3_1.htm.
    • Kafka Homepage: Der Prozess: Entstehung, Form und Gehalt, Publikation.
    • W: Die Handlung.
    • Unrecht im Namen des Rechts.
    • Die Verwandlung.
    • Biographisches: [ ,1,2,3,W, ]
    • Brief an den Vater [GB]
    • Kafka Uni Bonn.
    • Kafka Museum Prag. [1, 2, 3,]
    • Franz Kafkas Prag. [Kafka in Prag, Wohnungen der Eltern, Kafkas Domizile, Geschäft des Vaters, Ausbildung und Arbeit, Das Prager Judenviertel, Prag um 1900, Prag in der Literatur] [Tripolis Praga: 1,2,3,]
    • Kafka S. Fischer Verlag.


    Allgemeine Theaterliteratur.

    • Sucher, C. Bernd  (1996). dtv-Lexikon Theater. Sachlexikon. München: dtv.
    • Sucher, C. Bernd  (1999). dtv-Lexikon Theater. Personenlexikon. München: dtv.
    • Beide Bände vereinigt in der Digitalen Bibliothek Bd. 64.


    Allgemeine Theater-Links:
    Geänderte URL ohne Weiterleitung wurden entlinkt.

    • Die Deutsche Bühne * Perlentaucher. * Theater Heute * Theater-Index. * Theaterkritik (Kultur Online). * Theaterlexikon: [PDF] * Theater Online , DU, (Links). * Theater-Paradies-Deutschland. * ZDF-Theaterkanal. * SR-Online. * Berliner Schauspielschule Theaterkritiken: Online.* 3sat Theater. * Dramaturgie: [W] * Theaterstück [W.Drama]




    Glossar, Anmerkungen und Endnoten:
    GIPT = General and Integrative Psychotherapy, internationale Bezeichnung für Allgemeine und Integrative Psychotherapie.
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    Stichworte:  Bezugsrahmen sprengen * Das Verfahren macht die Betroffenen schön * Eindrücke * Inhalt und Gliederung des Romans *
       Koan * Kunstinterpretation und Kunst-Kritik *  Interpretation des (vermeintlich) Irrationalen, Surrealen, Absurden und Unfassbaren *
       Kafkas Schöpfungen * Max Brods Gewissenlösung *  "Schuld" und ihr Kontext im Prozess * Testmant Franz Kafkas * Werkorientierte Interpretation *   Wort und Begriff "Gesetz" im Prozess *  Zur Charakterisierung des anderen Gerichts im Prozess.
    ___
    Bezugsrahmen sprengen
      Probleme zweiter Ordnung kann man in der Regel nur lösen, wenn man den Bezugsrahmen sprengt und eine neue Perspektive einnimmt. So lange man im System des Üblichen, Gewohnten oder "Normalen" verharrt und eingesperrt bleibt, gibt es keine Lösung.
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    Das Verfahren macht die Verhafteten und Angeklagten schön
      "Es ist eine Sonderbarkeit Lenis, die ich ihr übrigens längst verziehen habe und von der ich auch nicht reden würde, wenn Sie nicht eben jetzt die Tür abgesperrt hätten. Diese Sonderbarkeit, Ihnen allerdings müßte ich sie wohl am wenigsten erklären, aber Sie sehen mich so bestürzt an und deshalb tue ich es, diese Sonderbarkeit besteht darin, daß Leni die meisten Angeklagten schön findet. Sie hängt sich an alle, liebt alle, scheint allerdings auch von allen geliebt zu werden; um mich zu unterhalten, erzählt sie mir dann, wenn ich es erlaube, manchmal davon. Ich bin über das Ganze nicht so erstaunt, wie Sie es zu sein scheinen. Wenn man den richtigen Blick dafür hat, findet man die Angeklagten wirklich oft schön. Das allerdings ist eine merkwürdige, gewissermaßen naturwissenschaftliche Erscheinung. Es tritt natürlich als Folge der Anklage nicht etwa eine deutliche, genau zu bestimmende Veränderung des Aussehens ein. Es ist doch nicht wie bei anderen Gerichtssachen, die meisten bleiben in ihrer gewöhnlichen Lebensweise und werden, wenn sie einen guten Advokaten haben, der für sie sorgt, durch den Prozeß nicht behindert. Trotzdem sind diejenigen, welche darin Erfahrung haben, imstande, aus der größten Menge die Angeklagten, Mann für Mann, zu erkennen. Woran? werden Sie fragen. Meine Antwort wird Sie nicht befriedigen. Die Angeklagten sind eben die Schönsten. Es kann nicht die Schuld sein, die sie schön macht, denn – so muß wenigstens ich als Advokat sprechen – es sind doch nicht alle schuldig, es kann auch nicht die richtige Strafe sein, die sie jetzt schon schön macht, denn es werden doch nicht alle bestraft, es kann also nur an dem gegen sie erhobenen Verfahren liegen, das ihnen irgendwie anhaftet. Allerdings gibt es unter den Schönen auch besonders schöne. Schön sind aber alle, selbst Block, dieser elende Wurm.«" (8. Kap)
    ___
    Eindrücke.
      Unsere "Eindrücke" von Theateraufführungen sind zwar an manchen Stellen gelegentlich kritisch, sind aber nicht als traditionelle Theaterkritiken misszuverstehen. Hierzu sind wir gar nicht ausgebildet und haben auch zu wenig Theaterkenntnis und -erfahrung. Wir können also die vielfältige Leistung von Dramaturgie, Regie, Musik, Bühnentechnik und Darstellung, besonders der SchauspielerInnen gar nicht angemessen bewerten. Und deshalb möchten wir uns auch mit Eindrücken begnügen. Wir verlangen vom Theater nicht mehr, als dass es Interesse weckt, berührt und zur Auseinandersetzung mit der Aufführung und dem ihm zugrundeliegenden Stück anregt.
    ___
    Inhalt und Gliederung des Romans
      Die Reihenfolge der Kapitel war im Original nicht ausgeführt, sie stammt von Max Brod. Seitenangaben nach Kafka. Sämtliche Werke (Ausgabe  Parragon 2006, Lizenz Melzer):
      1. Kapitel: Verhaftung. Gespräch mit Frau Grubach. Dann Fräulein Bürstner. (11-28)
      2. Kapitel: Erste Untersuchung (28-38)
      3. Kapitel: Im leeren Sitzungssaal. Der Student. Die Kanzleien. (38-53)
      4. Kapitel: Die Freundin des Fräulein Bürstner (53-58)
      5. Kapitel: Der Prügler (58-62)
      6. Kapitel: Der Onkel – Leni (62-75)
      7. Kapitel: Advokat - Fabrikant -Maler (75-107)
      8. Kapitel: Kaufmann Block. Kündigung des Advokaten (107-125)
      9. Kapitel: Im Dom (126-140) [Türhüter 135-136, Diskussion 136-139]
      10. Kapitel: Ende (140-144)
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    Koan
      Widersprüchliche Aufgabe, die mit üblichen Denken nicht zu lösen ist. Im Zen, eine östliche Weisheitslehre, die Darlegung einer Erfahrung, meist eine Geschichte mit paradoxem oder widersprüchlichen Inhalt, der für eine Lösung zu neuem Denken oder Verhalten zwingt, also einen Sprung, eine kreative Lösung erfordert. Mehr und Beispiele siehe bitte hier.
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    Kunstinterpretation und Kunst-Kritik
      Wollen uns KünstlerInnen etwas sagen und wie ist zu ergründen, was sie uns sagen wollen? Mit dieser Frage wurden und werden Milliarden von SchülerInnen und StudentInnen - seit es entsprechende Bildungseinrichtungen gibt - konfrontiert. Die Wahrheit dürfte nicht selten sein: es gibt vermutlich ebenso viele Deutungsmöglichkeiten für ein Werk wie es Erfassende gibt, die allesamt ihre individuelle Bildungs- und Persönlichkeitsgeschichte mitbringen. Ob Werkschaffende oder KunstproduzentInnen immer wissen, was sie sagen wollen, ist nicht minder zweifelhaft. Manche wollen vielleicht auch gar nichts sagen. Andere können es nicht oder sagen etwas (teilweise) Falsches. Nicht selten geben Künstler - wie ihre Kritiker - Unsinn von sich (z.B. in der Reihe 100(0)  Meisterwerke oder hier). Nicht wenige KünstlerInnen schaffen einfach, geben sich ihren Fantasien und Gestaltungen hin. Jedes Werk, könnte man vermuten, wirkt nach seiner Schaffung weitgehend unabhängig von seiner SchöpferIn. Etwas bildungspathetisch formuliert: es wirkt durch sich. Aber durch sich wirkt bei genauer Betrachtung gar nichts. Es sind immer zwei, die einen Eindruck konstituieren: das Werk und seine ErfasserIn (Reiz und Reaktion). Die Interpretation ist vielleicht selbst eine  individuelle Schöpfung. Und wie etwas auf eine Erfassende wirkt, kann nur die Erfassende selbst wissen und sagen, wobei auch hier viele nichtbewusste, kaum in Worten fassbare Faktoren mitspielen. Bei genauer Betrachtung haben wir also sowohl auf der Schöpfer- als auch auf der Erfasserseite viele subjektive, teils nicht bewusste, teils gar nicht angemessen in Worte fassbare Momente. Was ist dann aber ein Kunstwerk? Was ist eine angemessene Interpretation?  Gibt es keine objektiven Kriterien? Die Antwort ist ein klares Jein. Eine allgemein akzeptable Regel könnte lauten: Wenn eine Schöpfung anregt, berührt, bewegt, dann hat sie einen wichtigen Zweck erfüllt.


       

      • Querverweise: Wertfunktion Kunst, Definition der Kunst, Wovon hängt das sinnlich-geistige Werterleben bei der Kunstbetrachtung ab?
      • Interessant und verallgemeinerungsfähig auch Prinzhorn: Die psychologischen Grundlagen der bildnerischen Gestaltung.
      • Die Sprache der Kunst ist analog, symbolisch, "rechtshemisphärisch": Allgemeine und Integrative Symboltheorie, Einführung.
      • Einführung: Literatur und Kunst - Psychologie und Psychotherapie.
      • Absurdität, Antinomie, Aporie, Konfusion, Paradoxie, Pseudo-Paradoxie, Sophisma, Widerspruch, X-Strittiges/Sonstiges.
      • Dali: Unabhängigkeitserklärung der Phantasie und Erklärung der Rechte des Menschen auf seine Verrücktheit
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      Interpretation des (vermeintlich) Irrationalen, Surrealen, Absurden und Unfassbaren
      Hier muss zunächst unterschieden werden, ob es (1) um die Interpretation der Schöpfungsgeschichte eines so erlebten Werkes geht, wie es also zustande kommt, wie man seine Entstehung verstehen kann. Oder (2) kann der  subjektive Faktor der Wirkung gefragt sein, also warum das Werk auf den Erfassenden so wirkt. Werke können so und so interpretiert werden und das mag sich für verschiedene Interpretierende auch ganz unterschiedlich darstellen. Leichter wird es im allgemeinen, wenn man spezifische Fragen zu spezifischen Werkinhalten stellt, um sich nicht im Allgemeinen und damit meist Nebelhaften zu verlieren. Ein Werk ist ein Werk, so wie es gemacht ist und vorliegt. Das Werk selbst ist ein Objekt der Realität. Ihm kann so gesehen gar nichts Irrationales, Surreales, Absurdes oder Unfassbares anhaften. Diese Wirkung kommt erst mit den Erfassenden ins Spiel, die sich der Interaktion der Wirkung aussetzen. Die Charakterisierung Irrationales, Surreales, Absurdes oder Unfassbares ist in der Hauptsache ein Akt der Erfassenden, womit sie ihr Wirklichkeitsverständnis zum Ausdruck bringen.
      _
      Kafkas Schöpfungen
      Viele KünstlerInnen wissen nicht, wie sie zu ihren Einfällen kommen: sie finden sie vor und gestalten sie. Bei kommen kommt ein innerer Drang zum Ausdruck zu: Gestaltung als eine Art Katharsis oder "Therapie". So scheint es bei Kafka gewesen zu sein, wie einem Zitat von Wagenbach (1968. S. 95, fett-kursiv I-RS) entnommen werden kann: "Entlobung, Kriegsausbruch und Distanz zum Elternhaus gaben Kafka endlich die ersehnt-gefürchtete Einsamkeit. Einige Tage später vermerkt er im Tagebuch: Der Sinn für die Darstellung meines traumhaften innern Lebens hat alles andere ins Nebensächliche gerückt und es ist in einer schrecklichen Weise verkümmert und hört nicht auf zu verkümmern. Nichts anderes kann mich jemals zufriedenstellen ...."
      In diesem Monat (August 1914) beginnt Kafka mit der Niederschrift des Prozeß. Daß der Roman a u c h eine Strafphantasie war, weiß man: Am Vorabend seines einunddreißigsten Geburtstages wird Josef K. umgebracht, am Vorabend seines einunddreißigsten Geburtstages entschließt sich Kafka, nach Berlin zu fahren, um das Verlöbnis mit Felice zu lösen, die Entlobung selbst, im «Askanischen Hof», wird im Tagebuch Der Gerichtshof im Hotel [FN 167] genannt. Allerdings war zu dieser Zeit auch bereits, wie gesagt, das österreichische Thronfolgerpaar ermordet, und Kafka war österreichischer Bürger. Er selbst zieht diese Parallele, während der Niederschrift des '(Prozeß, im Tagebuch: Die Gedankengänge, die sich an den Krieg knüpfen, sind in der quälenden Art, mit der sie mich in den verschiedensten Richtungen zerfressen, ähnlich den alten Sorgen wegen [F168]"
    ___
    Max Brods Gewissenlösung (1966, S. 255ff)
      "Josef K.'s Sünde ist die mangelhafte, die nicht bis ans Ende durchgefühlte Liebe. Diese Liebe fehlt nicht ganz, aber sie ist weit entfernt davon, sich zu ihren hohen immanenten Möglichkeiten zu entwickeln — während des Prozesses allerdings (entwickelt sie sich, unter dem Druck des Gewissens, gegen den starrsinnigen Widerspruch des kleinen Ich, — wofür das »Schöner werden« aller Angeklagten während des Prozesses (III, 155) ein ergreifendes Symbol ist. Josef K. also, der überdies auch noch mit der Weinstubenkellnerin Elsa auf eine gleichgültige Weise liiert ist und während der Erzählung rasch mit Leni, dem Dienstmädchen des Advokaten, trotz ihrer warnenden Nixenhaftigkeit sich einläßt, hat nicht gerade ein heftiges Verlangen nach Fräulein Bürstner (»er konnte sich nicht einmal genau erinnern, wie sie aussah«), —  kommt sie ihm aber in die Quere, so möchte er sich ganz gerne von ihr über den rätselhaften Prozeß beruhigen lassen, den man ihm angehängt hat; dann küßt er sie »über das ganze Gesicht, wie ein durstiges Tier mit der Zunge über das endlich gefundene Quellwasser hinjagt« — zuletzt beim Abschied will er sie beim Vornamen nennen, weiß ihn aber nicht. Ich denke, das genügt, — mehr braucht über die  [>256] Herzenskälte und Beziehungslosigkeit von Josef K. zu seiner Umgebung, sein eingewurzeltes Junggesellentum  (im Sinne der Kafka'schen Rüge, die in diesem Wort liegt) gesagt zu werden. — Trotzdem hat sich nun in Amerika Kommentator Kafkas gefunden, der behauptet, Josef K. sei eigentlich völlig unschuldig, seine Sünde bilde er sich bloß ein, der ganze Prozeß bedeute nichts als eine neurotische Illusion, eine  hysterische Einbildung, von der er sich leider, infolge dekadenter Schwäche, nicht frei machen könne.
          Es ist klar, daß durch eine  solche Fehldeutung der Roman vom >Prozeß<  und analog das ganze Werk Kafkas zwar nicht seine ganze ästhetische Farbenfülle (wohl aber doch ein Teil von ihr) verliert, — daß dieses  fast übermenschliche Werk aber vorzüglich um seine versittlichende Kraft und Anstrengung  gebracht wird, die für Kafka selbst eine der Triebfedern seines Schaffens (vielleicht die Haupttriebfeder) war und die eine segensreiche Wirkung seiner Schriften für die ganze Menschheit zur Folge haben könnte, wenn man diese Schriften richtig liest. Davon sind wir aber weit entfernt, obwohl der Ruhm Kafkas immer weitere Kreise zieht. Offen gesagt, es scheint mir etwas nicht  ganz geheuer an diesem Ruhm. Er ist mit zu viel Mißverständnissen, zu viel Verfälschungen verbunden, er hat noch lange nicht jene Richtung genommen, in der Kafka allein zu einem freundlichen Blick auf dieses sein Nachwirken zu bewegen gewesen wäre. Wer Kafka liest und während des Lesens nicht einen unabweisbaren Verdacht gegen sich selbst faßt, den Verdacht, daß er, dieser bestimmte, ganz konkrete Leser, ein doch wohl nur äußerst lässiger Wahrheitsfreund und Befolger des göttlichen Gebots »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst« sein könne, —  wer sich nicht bei dieser Lektüre mit verschärfter Gewissenhaftigkeit prüft, wer sich nicht vornimmt, demütiger und womöglich besser zu werden, wer nachher die vielen Ausflüchte, die das empörte Ich solchem Vorsatz gegenüber wie Advokatentricks vorzubringen pflegt, nicht durchschaut und beseitigt: der kann sicher sein, Kafka nicht in der Intention aufgenommen zu haben, in der der Dichter, leidvoll suchend, seine leidvoll suchenden Gestalten geschaffen hat.
          Frühzeitig erkannte Kafka in sich die Gefahr, dem Gift des lieblosen Sich-Isolierens zu erliegen. Die Gefahr war ambivalent: denn Selbst-Isolation ist ja für den Schaffenden gleichzeitig eine Notwendigkeit. Nur in der Stille des Alleinseins hört der Schaffende das einzig richtige Wort; nur da darf der Glaubende hoffen, sich selbst in der tiefsten Schicht seines Gläubigseins und damit die Unendlichkeit der geistigen Welt zu verstehen. So mündet das Alleinsein, von dessen Segen Kafka in den Tagebüchern oft spricht, doch wieder in [>257] die große Liebe — und bezeugt sich damit als das richtige, nicht egozentrische, nicht ängstlich-kleinliche und »junggesellenhafte«) Alleinsein, es kann mit jener Beflissenheit für das eigene Wohl, in der das Herz sich zusammenzieht, nicht verwechselt werden. Im richtigen Alleinsein weitet sich ja das Herz und hat Platz für alle Kreatur. Die Grenzen zwischen Individuum und Gemeinschaft sind, wie oben ausgeführt, bei Erreichung einer solchen Konvergenz-Perspektive längst aufgehoben. Der so erreichte Punkt ist nur ein anderer Aspekt des »Ziels«, von dem Kafka spricht, — des Eintritts in die geistige, vom Kausalzwang erlöste Welt. Und Kafkas Werke sind Etappen seiner Selbst-Erziehung auf dieses Ziel hin. Sein Leben gibt Zeugnis dafür, — sein letztes Jahr war von einer wirklichen Liebe erfüllt. Josef K. wurde im Roman allerdings zum Tode verurteilt — doch um diesen Preis, weil der Romantod bis in die unwahrscheinlichste letzte Tiefe erlebt war, sprach der unsichtbare Gerichtshof den wirklichen K. frei. — Der Vergleich mit Goethes >Werther< ist hier so naheliegend, daß er nicht ausgeführt zu werden braucht."
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    "Schuld" und ihr Kontext im Prozess  (> Gericht, Gesetz)
      "Ich folgere das daraus, daß ich angeklagt bin, aber nicht die geringste Schuld auffinden kann, wegen deren man mich anklagen könnte. Aber auch das ist nebensächlich, die Hauptfrage ist, von wem bin ich angeklagt? Welche Behörde führt das Verfahren? Sind Sie Beamte? " (1. Kap)
          " »Aber gewiß«, sagte der Gerichtsdiener, »sie hat sogar die größte Schuld. Sie hat sich ja an ihn gehängt. Was ihn betrifft, er läuft allen Weibern nach. In diesem Hause allein ist er schon aus fünf Wohnungen, in die er sich eingeschlichen hat, hinausgeworfen worden." (3. Kap)
          "Vor allem war es, wenn etwas erreicht werden sollte, notwendig, jeden Gedanken an eine mögliche Schuld von vornherein abzulehnen. Es gab keine Schuld. Der Prozeß war nichts anderes als ein großes Geschäft, wie er es schon oft mit Vorteil für die Bank abgeschlossen hatte, ein Geschäft, innerhalb dessen, wie das die Regel war, verschiedene Gefahren lauerten, die eben abgewehrt werden mußten. Zu diesem Zwecke durfte man allerdings nicht mit Gedanken an irgendeine Schuld spielen, sondern den Gedanken an den eigenen Vorteil möglichst festhalten." (7. Kap)
          ". »Sie sind unschuldig?« fragte er. »Ja«, sagte K. Die Beantwortung dieser Frage machte ihm geradezu Freude, besonders da sie gegenüber einem Privatmann, also ohne jede Verantwortung erfolgte. Noch niemand hatte ihn so offen gefragt. Um diese Freude auszukosten, fügte er noch hinzu: »Ich bin vollständig unschuldig.« »So«, sagte der Maler, senkte den Kopf und schien nachzudenken. Plötzlich hob er wieder den Kopf und sagte: »Wenn Sie unschuldig sind, dann ist ja die Sache sehr einfach.« K.s Blick trübte sich, dieser angebliche Vertrauensmann des Gerichtes redete wie ein unwissendes Kind. »Meine Unschuld vereinfacht die Sache nicht«, sagte K. Er mußte trotz allem lächeln und schüttelte langsam den Kopf. »Es kommt auf viele Feinheiten an, in denen sich das Gericht verliert. Zum Schluß aber zieht es von irgendwoher, wo ursprünglich gar nichts gewesen ist, eine große Schuld hervor.« »Ja, ja, gewiß«, sagte der Maler, als störe K. unnötigerweise seinen Gedankengang. »Sie sind aber doch unschuldig?« »Nun ja«, sagte K. »Das ist die Hauptsache«, sagte der Maler. Er war durch Gegengründe nicht zu beeinflussen, nur war es trotz seiner Entschiedenheit nicht klar, ob er aus Überzeugung oder nur aus Gleichgültigkeit so redete. K. wollte das zunächst feststellen und sagte deshalb: »Sie kennen ja gewiß das Gericht viel besser als ich, ich weiß nicht viel mehr, als was ich darüber, allerdings von ganz verschiedenen Leuten, gehört habe. Darin stimmten aber alle überein, daß leichtsinnige Anklagen nicht erhoben werden und daß das Gericht, wenn es einmal anklagt, fest von der Schuld des Angeklagten überzeugt ist und von dieser Überzeugung nur schwer abgebracht werden kann.« »Schwer?« fragte der Maler und warf eine Hand in die Höhe. »Niemals ist das Gericht davon abzubringen. Wenn ich hier alle Richter nebeneinander auf eine Leinwand male und Sie werden sich vor dieser Leinwand verteidigen, so werden Sie mehr Erfolg haben als vor dem wirklichen Gericht.« »Ja«, sagte K. für sich und vergaß, daß er den Maler nur hatte ausforschen wollen." (7. Kap)
          "Man hält dich für schuldig. Dein Prozeß wird vielleicht über ein niedriges Gericht gar nicht hinauskommen. Man hält wenigstens vorläufig deine Schuld für erwiesen.« »Ich bin aber nicht schuldig«, sagte K., »es ist ein Irrtum. Wie kann denn ein Mensch überhaupt schuldig sein. Wir sind hier doch alle Menschen, einer wie der andere.« »Das ist richtig«, sagte der Geistliche, »aber so pflegen die Schuldigen zu reden.« »Hast auch du ein Vorurteil gegen mich?« fragte K. »Ich habe kein Vorurteil gegen dich«, sagte der Geistliche. »Ich danke dir«, sagte K., »alle anderen aber, die an dem Verfahren beteiligt sind, haben ein Vorurteil gegen mich. Sie flößen es auch den Unbeteiligten ein. Meine Stellung wird immer schwieriger.« »Du mißverstehst die Tatsachen«, sagte der Geistliche, »das Urteil kommt nicht mit einemmal, das Verfahren geht allmählich ins Urteil über.« »So ist es also«, sagte K." (9. Kap)
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    Testmant Franz Kafkas [GP]
        "Franz Kafka Letzte Briefe
    Liebster Max, meine letzte Bitte: Alles, was sich in meinem Nachlass (also im Buchkasten, Wäscheschrank, Schreibtisch, zu Hause und im Büro, oder wohin sonstirgendetwas vertragen worden sein sollte und dir auffällt) an Tagebüchern, Manuskripten, Briefen, fremden und eignen, Gezeichnetem und so weiter findet, restlos und ungelesen zu verbrennen, ebenso alles Geschriebene oder Gezeichnete, das du oder andre, die du in meinem Namen darum bitten sollst, haben. Briefe, die man dir nicht übergeben will, soll man wenigstens selbst zu verbrennen sich verpflichten. Dein Franz Kafka.
        Lieber Max, vielleicht stehe ich diesmal doch nicht mehr auf, das Kommen der Lungenentzündung ist nach dem Monat Lungenfieber genug wahrscheinlich, und nicht einmal, dass ich es niederschreibe, wird sie abwehren, trotzdem es eine gewisse Macht hat.
        Für diesen Fall also mein letzter Wille hinsichtlich alles von mir Geschriebenen:
        Von allem, was ich geschrieben habe, gelten nur die Bücher: Urteil, Heizer, Verwandlung, Strafkolonie, Landarzt und die Erzählung: Hungerkünstler. (Die paar Exemplare der "Betrachtung" mögen bleiben, ich will niemandem die Mühe des Einstampfens machen, aber neu gedruckt darf nichts daraus werden). Wenn ich sage, dass jene fünf Bücher und die Erzählung gelten, so meine ich damit nicht, dass ich den Wunsch habe, sie mögen neu gedruckt und künftigen Zeiten überliefert werden, im Gegenteil, sollten sie ganz verlorengehn, entspricht dieses meinem eigentlichen Wunsch. Nur hindere ich, da sie schon einmal da sind, niemanden daran, sie zu erhalten, wenn er dazu Lust hat.
        Dagegen ist alles, was sonst an Geschriebenem von mir vorliegt (in Zeitschriften Gedrucktes, im Manuskript oder in Briefen) ausnahmslos, soweit es erreichbar oder durch Bitten von den Adressaten zu erhalten ist (die meisten Adressaten kennst du ja, in der Hauptsache handelt es sich um ..., vergiss besonders nicht paar Hefte, die ... hat) – alles dieses ist ausnahmslos, am liebsten ungelesen (doch wehre ich dir nicht hineinzuschaun, am liebsten wäre es mir allerdings, wenn du es nicht tust, jedenfalls aber darf niemand andrer hineinschauen) – alles dieses ist ausnahmslos zu verbrennen, und dies möglichst bald zu tun bitte ich dich. Franz."
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    Werkorientierte Interpretation
      ist eine natürliche Idee, die sich viele KünstlerInnen auch wünschen, woran sich aber viele InterpretInnen nicht halten. Bei der werkorientierten Interpretation wird bewusst auf Rückgriffe auf andere Werke und die Biographie der KünstlerIn verzichtet. Das war hier bei Kafka insofern schwierig, als er uns natürlich durch verschiedene andere Werke durch die Schule und Kulturmedien bekannt war. Außerdem haben wir uns das Stück vorbereitet,  indem wir zunächst abwechselnd uns das Buch bis zum 7. Kapitel in sechs "Sitzungen" vorlasen. Danach sind wir auf das Hörbuch, das von theateraufcd angeboten wird,  umgestiegen und haben uns die Kapitel 7 bis 11 von Martin Schiederer angehört. So konnte sich Sponsel z.B. nicht dagegen wehren, sofort eine Assoziation zur Verwandlung - hier besprochen - zu haben. Sowohl der Anfang gleicht sich sehr mit der schlagartig einsetzenden  sowohl überraschenden als auch rätselhaften Veränderung (hie Verwandlung, da die Verhaftung).
            Jede Kritik ist eine Bewertung und verlangt daher, streng betrachtet, ein Bewertungsverfahren, das im allgemeinen aber unbekannt ist. So haftet der Kritik nicht selten etwas Willkürlich-Zufälliges und Subjektiv-Persönliches an. Daher besteht seit jeher ein spannungsvolles Verhältnis zwischen KünstlerIn und KritikerIn. Häufig spielen auch ganz profane - wenn auch selten zugegebene - Fragen eine Rolle: wie viel Platz steht für die Kritik zur Verfügung, wie schnell muss sie geschrieben sein, wie hoch ist das Honorar, was erwartet der Finanzier, die Redaktion, die LeserIn? Ist die KünstlerIn berühmt, hat sie Einfluss? Versteht, schätzt oder mag man sie?
          Die von uns bevorzugten 4 Grundsätze und Regeln werkorientierter Interpretation sind: (1) Inhaltsangabe, Hintergrund, Zeit- und Rahmenbedingungen und Verlauf der Handlung. (2) Leitmotive und Hauptthemen des Werkes. (3) Ausdrucksmittel: Sprache, Stil, Erwähnen und weg lassen, Dramaturgie und Spannung. (4) Besondere Analyse spezieller Themen. (5) Werkorientierte Wirkung und Interpretation der LeserInnen (Hierzu bringt W ein interessantes Zitat von Marcel Proust: "„In Wirklichkeit ist jeder Leser, wenn er liest, ein Leser nur seiner selbst. Das Werk des Schriftstellers ist dabei lediglich eine Art von optischem Instrument, das der Autor dem Leser reicht, damit er erkennen möge, was er in sich selbst vielleicht sonst nicht hätte erschauen können. Dass der Leser das, was das Buch aussagt, in sich selber erkennt, ist der Beweis für die Wahrheit eben dieses Buches und umgekehrt.“  – Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit 7: Die wiedergefundene Zeit".)
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    Wort und Begriff "Gesetz" im Prozess (> Gericht, Schuld)
    • "K. lebte doch in einem Rechtsstaat, überall herrschte Friede, alle Gesetze bestanden aufrecht, wer wagte, ihn in seiner Wohnung zu überfallen?"  (1. Kap)
    • "Unsere Behörde, soweit ich sie kenne, und ich kenne nur die niedrigsten Grade, sucht doch nicht etwa die Schuld in der Bevölkerung, sondern wird, wie es im Gesetz heißt, von der Schuld angezogen und muß uns Wächter ausschicken. Das ist Gesetz. Wo gäbe es da einen Irrtum?« »Dieses Gesetz kenne ich nicht«, sagte K. »Desto schlimmer für Sie«, sagte der Wächter. »Es besteht wohl auch nur in Ihren Köpfen«, sagte K., er wollte sich irgendwie in die Gedanken der Wächter einschleichen, sie zu seinen Gunsten wenden oder sich dort einbürgern. Aber der Wächter sagte nur abweisend: »Sie werden es zu fühlen bekommen.« Franz mischte sich ein und sagte: »Sieh, Willem, er gibt zu, er kenne das Gesetz nicht, und behauptet gleichzeitig, schuldlos zu sein.« »Du hast ganz recht, aber ihm kann man nichts begreiflich machen«, sagte der andere. K. antwortete nichts mehr; muß ich, dachte er, durch das Geschwätz dieser niedrigsten Organe – sie geben selbst zu, es zu sein – mich noch mehr verwirren lassen? Sie reden doch jedenfalls von Dingen, die sie gar nicht verstehen. Ihre Sicherheit ist nur durch ihre Dummheit möglich. Ein paar Worte, die ich mit einem mir ebenbürtigen Menschen sprechen werde, werden alles unvergleichlich klarer machen als die längsten Reden mit diesen." (1. Kap)
    • "das Gesetz aber schreibt Öffentlichkeit nicht vor. Infolgedessen sind auch die Schriften des Gerichts, vor allem die Anklageschrift, dem Angeklagten und seiner Verteidigung unzugänglich, man weiß daher im allgemeinen nicht oder wenigstens nicht genau, wogegen sich die erste Eingabe zu richten hat, sie kann daher eigentlich nur zufälligerweise etwas enthalten, was für die Sache von Bedeutung ist. Wirklich zutreffende und beweisführende Eingaben kann man erst später ausarbeiten, wenn im Laufe der Einvernahmen des Angeklagten die einzelnen Anklagepunkte und ihre Begründung deutlicher hervortreten oder erraten werden können. Unter diesen Verhältnissen ist natürlich die Verteidigung in einer sehr ungünstigen und schwierigen Lage. Aber auch das ist beabsichtigt. Die Verteidigung ist nämlich durch das Gesetz nicht eigentlich gestattet, sondern nur geduldet, und selbst darüber, ob aus der betreffenden Gesetzesstelle wenigstens Duldung herausgelesen werden soll, besteht Streit. Es gibt daher strenggenommen gar keine vom Gericht anerkannten Advokaten, alle, die vor diesem Gericht als Advokaten auftreten, sind im Grunde nur Winkeladvokaten. Das wirkt natürlich auf den ganzen Stand sehr entwürdigend ein, und wenn K. nächstens einmal in die Gerichtskanzleien gehen werde, könne er sich ja, um auch das einmal gesehen zu haben, das Advokatenzimmer ansehen. Er werde vor der Gesellschaft, die dort beisammen sei, vermutlich erschrecken. Schon die ihnen zugewiesene enge, niedrige Kammer zeige die Verachtung, die das Gericht für diese Leute hat. Licht bekommt die Kammer nur durch eine kleine Luke, die so hochgelegen ist, daß man, wenn man hinausschauen will, wo einem übrigens der Rauch eines knapp davor gelegenen Kamins in die Nase fährt und das Gesicht schwärzt, erst einen Kollegen suchen muß, der einen auf den Rücken nimmt. Im Fußboden dieser Kammer – um nur noch ein Beispiel für diese Zustände anzuführen – ist nun schon seit mehr als einem Jahr ein Loch, nicht so groß, daß ein Mensch durchfallen könnte, aber groß genug, daß man mit einem Bein ganz einsinkt. Das Advokatenzimmer liegt auf dem zweiten Dachboden; sinkt also einer ein, so hängt das Bein in den ersten Dachboden hinunter, und zwar gerade in den Gang, wo die Parteien warten. Es ist nicht zuviel gesagt, wenn man in Advokatenkreisen solche Verhältnisse schändlich nennt. Beschwerden an die Verwaltung haben nicht den geringsten Erfolg, wohl aber ist es den Advokaten auf das strengste verboten, irgend etwas in dem Zimmer auf eigene Kosten ändern zu lassen. Aber auch diese Behandlung der Advokaten hat ihre Begründung. Man will die Verteidigung möglichst ausschalten, alles soll auf den Angeklagten selbst gestellt sein. Kein schlechter Standpunkt im Grunde, nichts wäre aber verfehlter, als daraus zu folgern, daß bei diesem Gericht die Advokaten für den Angeklagten unnötig sind. Im Gegenteil, bei keinem anderen Gericht sind sie so notwendig wie bei diesem. Das Verfahren ist nämlich im allgemeinen nicht nur vor der Öffentlichkeit geheim, sondern auch vor dem Angeklagten. Natürlich nur soweit dies möglich ist, es ist aber in sehr weitem Ausmaß möglich. Auch der Angeklagte hat nämlich keinen Einblick in die Gerichtsschriften, und aus den Verhören auf die ihnen zugrunde liegenden Schriften zu schließen, ist sehr schwierig, insbesondere aber für den Angeklagten, der doch befangen ist und alle möglichen Sorgen hat, die ihn zerstreuen. Hier greift nun die Verteidigung ein. Bei den Verhören dürfen im allgemeinen Verteidiger nicht anwesend sein, sie müssen daher nach den Verhören, und zwar möglichst noch an der Tür des Untersuchungszimmers, den Angeklagten über das Verhör ausforschen und diesen oft schon sehr vermischten Berichten das für die Verteidigung Taugliche entnehmen. Aber das Wichtigste ist dies nicht, denn viel kann man auf diese Weise nicht erfahren, wenn natürlich auch hier wie überall ein tüchtiger Mann mehr erfährt als andere. Das Wichtigste bleiben trotzdem die persönlichen Beziehungen des Advokaten, in ihnen liegt der Hauptwert der Verteidigung. Nun habe ja wohl K. schon seinen eigenen Erlebnissen entnommen, daß die allerunterste Organisation des Gerichtes nicht ganz vollkommen ist, pflichtvergessene und bestechliche Angestellte aufweist, wodurch gewissermaßen die strenge Abschließung des Gerichtes Lücken bekommt. Hier nun drängt sich die Mehrzahl der Advokaten ein, hier wird bestochen und ausgehorcht, ja es kamen, wenigstens in früherer Zeit, sogar Fälle von Aktendiebstählen vor. Es ist nicht zu leugnen, daß auf diese Weise für den Augenblick einige sogar überraschend günstige Resultate für den Angeklagten sich erzielen lassen, damit stolzieren auch diese kleinen Advokaten herum und locken neue Kundschaft an, aber für den weiteren Fortgang des Prozesses bedeutet es entweder nichts oder nichts Gutes. Wirklichen Wert aber haben nur ehrliche persönliche Beziehungen, und zwar mit höheren Beamten, womit natürlich nur höhere Beamten der unteren Grade gemeint sind. Nur dadurch kann der Fortgang des Prozesses, wenn auch zunächst nur unmerklich, später aber immer deutlicher beeinflußt werden. Das können natürlich nur wenige Advokaten, und hier sei die Wahl K.s sehr günstig gewesen. Nur noch vielleicht ein oder zwei Advokaten könnten sich mit ähnlichen Beziehungen ausweisen wie Dr. Huld. Diese kümmern sich allerdings um die Gesellschaft im Advokatenzimmer nicht und haben auch nichts mit ihr zu tun. Um so enger sei aber die Verbindung mit den Gerichtsbeamten. Es sei nicht einmal immer nötig, daß Dr. Huld zu Gericht gehe, in den Vorzimmern der Untersuchungsrichter auf ihr zufälliges Erscheinen warte und je nach ihrer Laune einen meist nur scheinbaren Erfolg erziele oder auch nicht einmal diesen." (Der Advokat Dr. Huld, 7. Kap.)
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    Zur Charakterisierung des anderen Gerichts im Prozess (> Schuld, Gesetz)
    • daß das Gericht von der Schuld angezogen werde (Wächter Willem zu K. in dessen Erinnerung; 2. Kap)
    • »Vor allem, Onkel«, sagte K., »handelt es sich gar nicht um einen Prozeß vor dem gewöhnlichen Gericht.« (6. Kap)
    • K. "Ein einziger Henker könnte das ganze Gericht ersetzen" (7. Kap)
    • Es gibt nach dem Maler Titorelli drei Ziele, mit einem Prozess umzugehen (7. Kap):
      • Die wirkliche Freisprechung, die es nur nach den Legenden gegeben haben soll
      • Die scheinbare Freisprechung, die aber immer wieder zu neuen Verhaftungen, Anklagen und Prozessen führt
      • Verschleppen des Verfahrens, drehen auf unterer Ebene
    • Der Maler: "Die abschließenden Entscheidungen des Gerichts werden nicht veröffentlicht, sie sind nicht einmal den Richtern zugänglich, " (7. Kap)
    • "»Ich weiß nicht, wie Sie es meinen«, sagte der Kaufmann, »in geschäftlichen Rechtsangelegenheiten – ich habe ein Getreidegeschäft – vertritt mich der Advokat schon, seit ich das Geschäft übernommen habe, also etwa seit zwanzig Jahren, in meinem eigenen Prozeß, auf den Sie wahrscheinlich anspielen, vertritt er mich auch seit Beginn, es ist schon länger als fünf Jahre. Ja, weit über fünf Jahre«, fügte er dann hinzu und zog eine alte Brieftasche hervor, »hier habe ich alles aufgeschrieben; wenn Sie wollen, sage ich Ihnen die genauen Daten. Es ist schwer, alles zu behalten. Mein Prozeß dauert wahrscheinlich schon viel länger, er begann kurz nach dem Tod meiner Frau, und das ist schon länger als fünfeinhalb Jahre.« K. rückte näher zu ihm. »Der Advokat übernimmt also auch gewöhnliche Rechtssachen?« fragte er. Diese Verbindung der Gerichte und Rechtswissenschaften schien K. ungemein beruhigend. »Gewiß«, sagte der Kaufmann und flüsterte dann K. zu: »Man sagt sogar, daß er in diesen Rechtssachen tüchtiger ist als in den anderen.« " (8. Kap)
    • "Ich habe einmal in einer Schrift den Unterschied sehr schön ausgedrückt gefunden, der zwischen der Vertretung in gewöhnlichen Rechtssachen und der Vertretung in diesen Rechtssachen besteht. Es hieß dort: der Advokat führt seinen Klienten an einem Zwirnsfaden bis zum Urteil, der andere aber hebt seinen Klienten gleich auf die Schultern und trägt ihn, ohne ihn abzusetzen, zum Urteil und noch darüber hinaus."  (8. Kap)
    • "Das Gericht will nichts von dir. Es nimmt dich auf, wenn du kommst, und es entläßt dich, wenn du gehst.« (9. Kap, Ende)
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    Querverweise
    Standort: Kafka Der Prozess.
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     * Kafka: Die Verwandlung * Theater in der IP-GIPT. *
    Überblick Kunst, Ästhetik, Psychologie und Psychopathologie der Kunst in der IP-GIPT.
    Literatur- und Link- Liste zu den Seiten: Kunst, Ästhetik, Psychologie und Psychopathologie der Kunst.
    Wertfunktion Kunst, Definition der Kunst, Wovon hängt das sinnlich-geistige Werterleben bei der Kunstbetrachtung ab?
    Die psychologischen Grundlagen der bildnerischen Gestaltung.
    Allgemeine und Integrative Symboltheorie, Einführung.
    Einführung: Literatur und Kunst - Psychologie und Psychotherapie.
    Absurdität, Antinomie, Aporie, Konfusion, Paradoxie, Pseudo-Paradoxie, Sophisma, Widerspruch, X-Strittiges/Sonstiges.
    Dali: Unabhängigkeitserklärung der Phantasie und Erklärung der Rechte des Menschen auf seine Verrücktheit.
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    Suchen in der IP-GIPT, z.B. mit Hilfe von "google": <suchbegriff> site: www.sgipt.org
    z.B. Theater site: www.sgipt.org. 
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    Dienstleistungs-Info.
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    Zitierung
    Sponsel, Rudolf (DAS). Der Prozess. Ein Roman von Franz Kafka. Eindrücke von der Inszenierung im Markgrafentheater Erlangen am 27.2.2013 und einer Auseinandersetzung mit dem Roman und seiner Deutung. Aus unserer Abteilung Kunst, Ästhetik, Psychologie der Kunst. IP-GIPT. Erlangen: https://www.sgipt.org/kunst/theater/Prozess/prozess.htm
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    03.03.13    Testament Franz Kafkas.