Internet Publikation für Allgemeine und Integrative Psychotherapie
    (ISSN 1430-6972)
    IP-GIPT DAS=27.01.2008 Internet-Erstausgabe, letzte Änderung: 03.06.18
    Impressum: Diplom-Psychologe Dr. phil. Rudolf Sponsel   Stubenlohstr. 20 D-91052 Erlangen
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    Anfang_Kafka Die Verwandlung__Überblick__Rel. Aktuelles __Rel. Beständiges  _ Titelblatt__ Konzept__ Archiv__ Region__Service-iec-verlag__ Wichtiger Hinweis zu Links
    Willkommen in unserer Internet Publikation für Allgemeine und Integrative Psychotherapie, Abteilung Kunst, Ästhetik, Psychologie der Kunst, Bereich Theater, und hier speziell zum Thema:

    Die Verwandlung
    Eine Erzählung von Franz Kafka

    Entstanden im Spätherbst 1912 in Prag

    Analyse und werkorientierte Interpretation der Erzählung neben Eindrücken aus der
    Erlanger Inszenierung in der Garage  (Theaterinfo; PDF-Material).

    von Irmgard Rathsmann-Sponsel und Rudolf Sponsel, Erlangen
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    Inhaltsübersicht
    Kafka und die Interpretation.
    Analyse und werkorientierte Interpretation der Erzählung.
    1.  Inhaltsangabe, Hintergrund, Zeit- und Rahmenbedingungen und Verlauf der Handlung.
    2.  Leitmotive und Hauptthemen des Werkes.
    3.  Ausdrucksmittel: Sprache, Stil, Erwähnen und weglassen, Dramaturgie und Spannung.
         Die vier Ungeheuerlichkeiten. 
         Was wird nicht thematisiert?
         Höhepunkt paradoxer Vieldeutigkeit der Worte (Tier). 
    4.  Die Persönlichkeiten, Charaktere und das Familiensystem.
    4.1a  Gregor der Mensch.
    4.1b  Gregor der Menschen-Käfer (Zwitter) - Art und Weise der "Verkäferung".
               Der Verlust der Sprechfähigkeit vollzieht sich am ersten Tag.
               Exkurs: Entwicklung der Gefühle neben den Empfindungen.
           Zusammenfassung: Die Persönlichkeit Gregors.
    4.2  Die Schwester Grete. 
               Zusammenfassung: Die Persönlichkeit der Schwester.
    4.3  Die Mutter. 
               Zusammenfassung Die Persönlichkeit der Mutter.
    4.4  Der Vater. 
               Zusammenfassung: Die Persönlichkeit des Vaters.
    4.5  Das Familiensystem.
               Zusammenfassung: Das Familiensystem Samsa.
               Exkurs-1: Wie Gregor den Menschen-Käfer und Zwitter kurieren ?
               [Anmerkungen:Familie Samsa bei der Familientherapie ...]
    5.  Werkorientierte Wirkung und Interpretation.
         Die radikalste Deutung der Botschaft der Verwandlung.
    Eindrücke von der Inszenierung in der Garage.
    Literatur.
    Links.
    Glossar, Anmerkungen und Endnoten:
         Bürgerliche Lebensformen * Deutsche Literatur in Prag um 1900 * Eindrücke * Entstanden * 
         Erlanger Nachrichten * Familie Samsa bei der Familientherapie * Folie à deux * Garage *
         Information Theater Erlangen * Käfer-Symbolik * Kafka-Fans * 
         Metamorphose, Natur- und Kulturgeschichte zum Thema Verwandlung * Prag um 1900 * 
         PsychoanalytikerInnen * Schubiger * semantisch, Semantik * Wenn er uns verstünde * 
         werkorientierte Interpretation *
    Querverweise.
    Änderungen.



    Kafka und die Interpretation
    Kafka, seine Persönlichkeit, sein Leben und Werk, sind eine unerschöpfliche Quelle für PsychologInnen - ein gefundenes Fressen für PsychoanalytikerInnen - und InterpretInnen. Doch: Jede KünstlerIn hat erst einmal auch einen Anspruch darauf, dass ihr Werk für sich und aus sich selber "spricht" -  wie auch die Inszenierung, auch wenn diese natürlich an das Originalwerk gebunden ist. Obwohl werkorientierte Interpretation im Grunde am einfachsten ist, wird sie nur selten (streng) angewendet. Viele Interpreten sind aber auch schlicht ein Opfer ihrer großen Bildung, auf deren Einbringung sie offenbar kaum verzichten können (> Schubiger). Und beim Ruhme Kafkas und seiner ebenso ungewöhnlichen wie faszinierenden Persönlichkeit und seinem Werk, scheint für nicht wenige die Versuchung sehr groß, auf psychologische Spekulationen über Kafkas Person, Beziehungen und Leben über das Werk - auf andere - hinaus auszuweichen. Obwohl wir als PsychologInnen und Kafka-Fans besonders gefährdet erscheinen, dieser Versuchung zu erliegen, wollen wir uns bemühen, genau dieser Versuchung so lange wie möglich zu widerstehen und so nahe am Werk selbst - auch bei der Inszenierung in der Garage - zu bleiben wie es uns nur möglich ist. Nach bald 30 Jahren Balint-Intervisions Erfahrung sollte dies auch möglich sein ;-) - wem sonst?



    Analyse und werkorientierte Interpretation der Erzählung.
    Wir tun bei der Interpretation so, als wüßten wir nichts von Kafka, nichts von seinem Leben, nichts von seinen Beziehungen, Eigenheiten,  Schwierigkeiten und nichts von seinem großen Nachruhm.

    1.  Inhaltsangabe, Hintergrund, Zeit- und Rahmenbedingungen und Verlauf der Handlung.

    Die Erzählung ist formal in drei Teile gegliedert:
        Der I. Teil (17 Seiten) endet am Tag der Verwandlung in ein "ungeheures Ungeziefer" vom Typ Käfer, der etwa 1/3 so groß wie ein Mensch und damit auch innerhalb der Käferwelt ein surrealer Riese ist, der kaum unter dem Kanapee Platz hat.
        Der II. Teil mit ebenfalls 17 Seiten beginnt mit dem Erwachen am Abend aus einer Art Erschöpfungsschlaf am Tag nach der Verwandlung und endet rund 2 Monate später. Der erste Teil des 2. Teils beschreibt die wohlwollende Versorgung durch seine Schwester und der zweite Teil des 2. Teils beschreibt die Entwicklung zu lästigen Pflicht: der Anfang vom Ende des Gregor-Käfers.
        Der 3. Teil (17 Seiten) beschreibt die Entwicklung zum Tode Gregors und die "Auferstehung" der Familie.
    In der Mitte der Erzählung (S. 25) wendet sich die Haltung seiner Schwester und das Drama beginnt seine Vollendung; möglicherweise symbolisch unterstrichen durch das Erscheinen der drei Herren, die zur Untermiete eingezogen sind.

    Der junge Handlungsreisende Gregor, der - in dem Betrieb arbeitet, bei dem der Vater durch seinen Konkurs Schulden hat - und damit seine Familie brav und loyal ernährt,  verwandelt sich über Nacht in einen Käfer bei Erhalt seiner seelisch-geistigen Identität. Zu den Einstiegs-Paradoxien der Erzählung gehört, dass Gregor seine Verwandlung in einen Käfer zunächst ohne jede Emotion und anscheinend voller Gleichmut wie ein außenstehender Beobachter registriert. Seine erste Reaktion ist nüchtern - "»Was ist mit mir geschehen?« dachte er. Es war kein Traum." - , schicksalsergeben und vernünftig: "Gleichzeitig aber vergaß er nicht, sich zwischendurch daran zu erinnern, daß viel besser als verzweifelte Entschlüsse ruhige und ruhigste Überlegung sei.". Die Geschichte spielt in Prag um 1900. Der Vater hat Konkurs gemacht, alle drei Familienmitglieder, Mutter, Vater und die 17jährige Schwester Grete, werden vom Handlungsreisenden Gregor seit 5 Jahren ernährt. Gregor geht davon aus, dass es weitere 5-6 Jahre dauern wird, bis die Schulden abgetragen sein werden. Gregor weiss nämlich nicht, dass der Vater ein bißchen Geld retten konnte und auch während der letzten 5 Jahre etwas von Gregors Verdienst gespart hat. (Das erfährt er erst nach seiner Verwandlung in einen Käfer, der sich zwar selbst nach einem Tag als Käfer den Menschen nicht mehr verständlich machen kann, aber sehr wohl alles versteht, was gesprochen wird.) Aber die Familie leistet sich ein Dienstmädchen, obwohl keiner der drei Angehörigen (Vater, Mutter, Schwester) arbeitet, was sich im Verlauf der Erzählung aber ändert, so dass am Ende unter dem vorherzusehenden Finanzdruck alle drei arbeiten. Zusätzliches Geld kommt durch die Untervermietung an drei Herren herein, die fristlos kündigen als sie Gregor, den Käfer, bemerken.

        Die Familie reagiert verständlicherweise fassungslos, erschrocken, entsetzt und verstört auf die Verwandlung Gregors. Aber sie duldet den Gregor-Käfer zunächst weiterhin in seinem Zimmer und die Schwester, zu der Gregor eine besonders liebevolle Beziehung pflegte, übernimmt unter Abschirmung der Eltern und Schonung der Mutter wohlwollend und taktvoll seine Grundversorgung mit Nahrung und mobiliaren Umstellungen. Die Familie versucht das ungeheuerliche Geschehen nach außen zu verbergen. Sie verzichtet aber auch auf jeglichen Kommunikationsversuch und kommt auch nicht auf die Idee, sich Rat oder Hilfe zu holen. Nur ganz am Anfang, bevor Gregors Verwandlung in einen Käfer der Familie offenbar wurde, dachte man kurz daran, außer dem Schlosser (wegen der verschlossenen Tür) auch einen Arzt zu holen (ein Krankenhaus liegt auch direkt gegenüber dem Wohnhaus der Samsas).

        Die Familie hatte sich nach dem Konkurs des Vaters hängen lassen und passiv eingerichtet, wobei Gregor die gesamte finanzielle Last und Verantwortung für die Familie trägt, was er einerseits gern tut, weil es ihm Bedeutung verleiht, ihn wichtig und anscheinend unentbehrlich macht, womit er sich andererseits aber auch behindert, eigene Lebensvorstellungen zu entwickeln. Aber die ausdrückliche Anerkennung und noch mehr die Herzenswärme fehlt - die Gregor nur für kurze Zeit nach dem geschäftlichen Unglück des Vaters gespürt hatte, als er zur Rettung der Familie seine Lebensplanung vollständig geändert hatte und "fast über Nacht aus einem kleinen Kommis ein Reisender geworden, der natürlich ganz andere Möglichkeiten des Geldverdienens hatte, und dessen Arbeitserfolge sich sofort in Form der Provision zu Bargeld verwandelte, das der erstaunten und beglückten Familie zu Hause auf den Tisch gelegt werden konnte" war. Übrig geblieben ist so etwas wie Stolz, wenn er sich seine Leistung vergegenwärtigt. Er geht sogar noch weiter, wenn er spekuliert, seiner Schwester Grete das Konservatorium zu ermöglichen. Ich kann für Euch sorgen, also bin ich wer, lautet sein Motto, worin auch viel Lebensrealität steckt. Er bezieht seinen Selbstwert nahezu ausschließlich aus seiner Tüchtigkeit, das Geld, wenn auch unter sehr schwierigen und ungeliebten Bedingungen heranzuschaffen. Dies wird ihm und seiner Familie über Nacht durch die Verwandlung genommen. In der ersten Zeit ist die Beziehung zwischen Gregor und seiner Schwester, die seine Versorgung übernommen hat, durch eine vorsichtige und wechselseitig taktvolle Haltung gekennzeichnet.
        Während Gregor seine selbst gewählte Existenzgrundlage verloren hat, wächst die Familie durch die Herausforderung. Alle entdecken zunehmend ihre Kräfte und Fähigkeiten, werden aktiv und gewinnen durch diese Aktivität an Vitalität. Der alte Gregor ist nicht nur nicht mehr da und nicht mehr nötig, der neue Gregor-Käfer wird für die Familie zunehmend zur Bürde und Last. War die Schwester fast den ganzen ersten Monat nach der Verwandlung noch mitfühlend und taktvoll, so kommt es im zweiten Teil zu einem Wandel ihrer Haltung: sie verrichtet die Gregor-Versorgung zunehmend nachlässig und lieblos. Das entwickelt sich ca. einen weiteren Monat so.

        Die Dramaturgie der Erzählung ergibt sich aus dem Kontrast, dass Gregor - so wird der Käfer in der Erzählung auch immer genannt - seine persönliche Identität behält, er viel von dem mitbekommt, was mit den anderen los ist und wie sie zu ihm stehen. Aber seine Familiengehörigen wissen das nicht, nehmen es nicht an, ja halten es nicht einmal für möglich - nur am Ende, als es um das Wegschaffen Gregors geht, blitzt es beim Vater kurz auf ("wenn er uns verstünde?")

        Gregor kann zwar bis zum Ende der Erzählung hören, aber er kann sich bereits nach dem ersten Tag nicht mehr sprachlich mitteilen. Er ist gefangen, vollkommen hilflos und auf das Wohlwollen seiner Angehörigen, in erster Linie seiner Schwester Grete angewiesen. Es setzt sowohl eine zunehmende Gewöhnung als auch Entfremdung ein. Gregor wird zunehmend lästig. Und so wird auch Gregors Versorgung zusehend nachlässiger und liebloser, ja zu einer lästigen Pflicht, der sie sich gar nicht schnell genug entledigen kann. Die einst sehr gute Beziehung zur Schwester wird brüchig und schlägt schließlich in pure Feindseligkeit um, als Gregor bei ihrem Violinenspiel für die drei Herren die Grenze überschreitet und ins Wohnzimmer vorrückt. Hier kommt zum Eklat als Gregor sich aus seinem Zimmer hervorwagt, um dem Violinenspiel der Schwester und ihr nahe zu sein. Hier prallen nun zwei unterschiedlich entwickelte Welten tragisch zusammen: Gregors Traum von seiner Schwester, der Violinenvirtuosin, lässt ihn alle Schmerzen und Behinderungen vergessen und ins Wohnzimmer vorrücken, so schnell und mühelos, dass er die Entfernung gar nicht spürt und bemerkt. Während er in der Düsternis seines Käferdaseins ein Hoch der Gefühle erlebt, ist es bei seiner Schwester genau umgekehrt. All ihr Frust der letzten Wochen entlädt sich als Gregors Grenzüberschreitung von dem Anführer der drei Herren entdeckt wird und es bricht aus ihr heraus:
     

      "»Liebe Eltern«, sagte die Schwester und schlug zur Einleitung mit der Hand auf den Tisch, »so geht es nicht weiter. Wenn ihr das vielleicht nicht einseht, ich sehe es ein. Ich will vor diesem Untier nicht den Namen meines Bruders aussprechen, und sage daher bloß: wir müssen versuchen, es loszuwerden. Wir haben das Menschenmögliche versucht, es zu pflegen und zu dulden, ich glaube, es kann uns niemand den geringsten Vorwurf machen.«"
      ...
      "»Weg muß er«, rief die Schwester, »das ist das einzige Mittel, Vater. Du mußt bloß den Gedanken loszuwerden suchen, daß es Gregor ist. Daß wir es so lange geglaubt haben, ist ja unser eigentliches Unglück. Aber wie kann es denn Gregor sein? Wenn es Gregor wäre, er hätte längst eingesehen, daß ein Zusammenleben von Menschen mit einem solchen Tier nicht möglich ist, und wäre freiwillig fortgegangen. Wir hätten dann keinen Bruder, aber könnten weiter leben und sein Andenken in Ehren halten. So aber verfolgt uns dieses Tier, vertreibt die Zimmerherren, will offenbar die ganze Wohnung einnehmen und uns auf der Gasse übernachten lassen."


    Nachdem Gregor wieder in seinem Zimmer war, die Schwester mit einem erleichterten "endlich" die Tür verschloss ...:

       
      "»Und jetzt?« fragte sich Gregor und sah sich im Dunkeln um. Er machte bald die Entdeckung, daß er sich nun überhaupt nicht mehr rühren konnte. Er wunderte sich darüber nicht, eher kam es ihm unnatürlich vor, daß er sich bis jetzt tatsächlich mit diesen dünnen Beinchen hatte fortbewegen können. Im übrigen fühlte er sich verhältnismäßig behaglich. Er hatte zwar Schmerzen im ganzen Leib, aber ihm war, als würden sie allmählich schwächer und schwächer und würden schließlich ganz vergehen. Den verfaulten Apfel in seinem Rücken und die entzündete Umgebung, die ganz von weichem Staub bedeckt waren, spürte er schon kaum."


    Die Abwendung seiner Schwester, die offene Ablehnung und die Erschöpfung der Familie dringt in sein Bewusstsein. Er nimmt wahr, dass es kein Wohlwollen mehr für ihn gibt und akzeptiert das auch. Damit gibt er seinen Lebenswillen auf und das macht ihn bereit für Sterben und Tod:

       
      "An seine Familie dachte er mit Rührung und Liebe zurück. Seine Meinung darüber, daß er verschwinden müsse, war womöglich noch entschiedener als die seiner Schwester. In diesem Zustand leeren und friedlichen Nachdenkens blieb er, bis die Turmuhr die dritte Morgenstunde schlug. Den Anfang des allgemeinen Hellerwerdens draußen vor dem Fenster erlebte er noch. Dann sank sein Kopf ohne seinen Willen gänzlich nieder, und aus seinen Nüstern strömte sein letzter Atem schwach hervor."


    Damit kann ein neues Lebens für die restlichen drei Familienmitglieder beginnen. Die Bürde und Last ist mit der letzten Verwandlung Gregors vom Leben zum Tod abgefallen. Gregors Verwandlung in einen Käfer - und damit sein Ausfall als Ernährer - zwang Eltern und Schwester sich aus ihrer Passivität zu erheben und neue, eigene Wege der Selbstverantwortung zu gehen. Der Ausfall Gregors reaktivierte also die Vitalitätsresourcen aller drei, Lebensgenuss und Perspektive wird für sie durch Gregors Tod wieder möglich.

    Die Geschichte hätte einen anderen Ausgang nehmen können, wenn Kommunikation möglich gewesen wäre. Damit unterstreicht DIE VERWANDLUNG, wie  unverzichtbar im wahrsten Sinne des Wortes die Kommunikation zwischen den Menschen ist. Das ist eine Erfahrung, die wir als PsychotherapeutInnen nur bestätigen können: wenn die Kommunikation verstummt oder schwer gestört ist, geht meist gar nichts mehr und alles wird schlimmer und schlimmer. Aber die Familie, so wollte es der Dichter, kam nicht auf Idee, sich um Kommunikation zu bemühen, es wenigstens zu versuchen.



    2. Leitmotive und Hauptthemen des Werkes:
    "»Was ist mit mir geschehen?« dachte er. Es war kein Traum."

    Etwas Außergewöhnliches und Ungeheuerliches befällt eine bürgerlich geschilderte Familie. Das surreale Unglück erscheint völlig unverständlich und sinnlos, es bricht einfach über Nacht herein. Man weiß nicht warum und wieso, es ist einfach da. Es wird auch von niemandem hinterfragt, vielmehr versucht man, was man muss: sich mit dem Ungeheuerlichen "einzurichten" und mit etwas umzugehen, mit dem man eigentlich gar nicht umgehen kann. Durch die große erste Verwandlung Gregors in einen Käfer, kommt es in der Folge, das ist auch das Leitmotiv der Erzählung, zu allmählich immer weiter fortschreitenden Wandlungen aller Beteiligten. Die 50seitige Erzählung hat es in sich und birgt eine riesige Fülle von Themen, die wir in folgenden Stichwortkomplexen ordnen und systematisieren möchten:
     

    1. Identität, Metamorphose(n), Zwitter, Veränderung, Verwandlung, Wandel, Bruch (Umgang mit -).
    2. Surreales, Irreales, Phantastisches, Unwirkliches, science fiction.
    3. Sinn, Schicksal, Existenz.
    4. Kampf um Normalität, Wahren des Scheins und zurecht kommen auf jeden Fall: wie richtet man sich mit dem Unnormalen und Ungeheuerlichen ein?
    5. Kontrast zwischen einem ungeheuerlichen Geschehen und sich in sein Schicksals ergeben, es ertragen; ohne Leidenschaft und Auflehnung, mit ruhiger Vernunft hinnehmen, nicht verzweifeln, überleben wollen.
    6. Übertreibung, extrem, auf die Spitze getrieben.
    7. Schlagartig, plötzlich, urplötzlich, von einer Sekunde zur anderen (Umgang mit -).
    8. Überraschend, unerwartet, unvorhersehbar (Umgang mit -).
    9. Unglück, Unheil, Katastrophe (Umgang mit -).
    10. Außergewöhnlich, ungewöhnlich, ungeheuerlich, unglaublich, aus den Fugen, aus der Ordnung (Umgang mit -).
    11. Abnorm, abweichend (Devianz), anders, fremd, krank, pathologisch, neu ("Neubildung"), neuartig, unbekannt.
    12. Verstört, ratlos, hilflos (Umgang mit -).
    13. Angst, Grauen, Horror, Schrecken (Umgang mit -).
    14. Ablehnung, Abstoßung, Abscheu, Ekel (Umgang mit -).
    15. Ambivalenz, hin- und hergerissen (Umgang mit -).
    16. Einsam, isoliert, sprachlos, kommunikationslos.
    17. Rätselhaft, unbegreiflich, unverständlich, unfassbar (Umgang mit -).
    18. Bewältigung, fertig werden, anpassen, Neuorientierung.
    19. Familie, Familienbeziehungen, Bindung, Treue, Mitgefühl.
    20. Rolle, Bedeutung im Familiensystem, Wert, nützlich sein, gebraucht werden und brauchen.
    21. Wer seine Normalität, Kommunikationsfähigkeit und Funktionalität verliert, hat seinen Existenzwert verloren (Faschismustheorie)
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    3.  Ausdrucksmittel: Sprache, Stil, Aufbau, Dramaturgie und Spannung.

    Das wichtigste und grundlegende Element der Spannung der LeserIn dieser Erzählung ergibt sich aus der Konstruktion, dass (1) Gregor-Käfer zwar alle versteht, was die Familie (2) aber nicht weiß und dass er (3) nicht sprechen kann. Die Kommunikation ist zur Einbahnstraße geworden, Sender und Empfänger. Die Familie kann Gregor-Käfer nicht mehr empfangen, weil er nicht mehr senden kann. Zumindest nicht mehr sprachlich. Andere Wege werden nicht für möglich erachtet und daher auch nicht gesucht, wodurch die von Beginn angelegte Grundspannung erhalten bleibt.

    Die Ausdruckskraft der Sprache ergibt sich - paradoxerweise - aus ihrer beschreibend alltäglichen Schlichtheit, die einen starken Kontrast zum unerhörten Geschehen bildet. Zudem gibt es zahlreiche teilweise absurd-grotesk anmutende Kontraste zwischen Situation, Erleben und Verhalten. Als wichtiges Stilmittel erscheinen daher die Kontraste und das Wechselspiel zwischen der Ebene des Abnormen, Surrealen, Absurden, Grotesk, Gruselig-Unheimlichen (Science fiction) und der Ebene des Normalen, Trivialen, Banalen, Alltäglichen, Alltäglichen und Langweiligen.
     
    Die vier Ungeheuerlichkeiten. Die Erzählung beginnt mit einem Paukenschlag gleich auf der ersten Seite. Der junge Handlungsreisende Gregor Samsa, der seine Familie (Vater, Mutter, Schwester) ernährt, verwandelt sich äußerlich über Nacht in die Körpergestalt eines (Riesen-) Käfers. Das ist die erste - literarisch phantasierte - Ungeheuerlichkeit. Die zweite psychologische Ungeheuerlichkeit besteht darin, dass Gregor trotz seiner Käfergestalt seine seelisch-geistige Identität als Person Gregor behält: er erlebt und denkt wie Gregor, nicht wie ein Käfer. Die dritte Ungeheuerlichkeit ist die gleichmütige Reaktion Gregors auf die Wahrnehmung der körperlichen Verwandlung. Er stellt zunächst seine Käfergestalt ohne jede Emotion fest. Er wirkt nicht fassungslos, nicht erschrocken, nicht erschüttert, nicht verwirrt, nicht verzweifelt und - zunächst - auch nicht ratlos: nichts von alledem, was zu erwarten wäre. Er stellt es wie ein unbeteiligter Außenstehender nur fest und sorgt sich sodann, dass er verschlafen hat und wie das sein Chef wohl aufnehmen wird.
        Damit ist bereits auf der ersten Seite mit wenigen Worten ein extremer Kontrast zu einer unglaublichen Surrealität hergestellt und der psychologische Spannungsbogen dieser Geschichte angelegt: wie kommen ein Mensch, seine Bezugspersonen, seine Umgebung und die anderen damit zurecht, dass eine solche Verwandlung stattfindet? Besonders erschwerend für Gregor erweist sich der volle seelisch-geistige Identitätserhalt, wodurch die Erzählung ihre tiefe Dramatik für die LeserIn erhält.
        Als der Prokurist daheim auftaucht, um zu sehen wo er bleibt, öffnet er - zunächst - nicht. Er will seine (verwandelte) Gestalt verbergen. Später gelingt es ihm mühsam, den Schlüssel mit seinen Kiefern umzudrehen, so dass die anderen nun seine Gestalt sehen können. Dem Prokuristen entschlüpft zunächst nur ein "Oh". Und sogleich ereignet sich die vierte Ungeheuerlichkeit, als Gregor, den Gestaltwandel zum Käfer übergehend, in einer langen Erklärung, das Ungeheuerliche Ereignis verleugnend, sagt: "»Nun, ich werde mich gleich anziehen, die Kollektion zusammenpacken und wegfahren ...«. Psychologisch ein schönes Beispiel für den Umgang mit dem Ungeheuerlichen: man verleugnet es, tut so, als existiere es gar nicht. Als erste Schockreaktion verständlich und normal, als Dauerhaltung ungewöhnlich und eine literarische Raffinesse Kafkas: Spannung und dunkle Bedeutung entsteht oft nämlich auch durch das, was nicht mitgeteilt wird. Alle vier Ungeheuerlichkeiten durchziehen die ganze Geschichte bis zum Ende. (> Zur größten Ungeheuerlichkeit)

    Was wird nicht thematisiert ? Für die Analyse ist der Gang der Handlung wichtig. Was wird gesagt und thematisiert? Aber auch: was wird nicht gesagt und nicht thematisiert, was bleibt im Dunkeln, unklar oder offen?
        Weder die Familie noch Gregor hinterfragen das Geschehen. Was jeder erwarten, wie jeder reagieren und was jeder machen würde, findet hier gerade nicht statt. Und so wird Spannung pur erzeugt durch Weglassen, ausblenden, nicht befassen. Kafka erweist sich hier als ein Meister der großen Wirkung mit kleinsten Mitteln, indem er Erwartetes ("Normales") einfach ausspart.

    Höhepunkt paradoxer Vieldeutigkeit der Worte (Tier). Obwohl Literatur ja gerade durch ihre projektive Vielfalt beeindruckt - weshalb es auch keine einzig wahren Deutungen geben kann - drückt Kafka in der Entscheidungs- Dramaturgie- Szene des Violinenspiels im letzten Abschnitt (S. 42) mit der Frage Gregors "War er ein Tier, da ihn Musik so ergriff?" einen sprachlichen Höhepunkt paradoxer Vieldeutigkeit aus. Sponsel verstand diesen kurzen Satz lange Zeit nicht - vermutlich wegen der vielfachen und mehrsinnigen Bedeutung des Wortes "Tier" im Zusammenhang mit dieser Erzählung und es gab einige Diskussion um diesen kurzen Satz. Rathsmann-Sponsel hatte kein Problem und deutete spontan, dass "Tier" in dieser Formulierung bedeuten musste, die Beherrschung (nämlich vor aller Augen, besonders aber vor den drei Zimmerherren sich verborgen zu halten), ob der Ergriffenheit durch die Musik zu verlieren.
        Diese neue Ergriffenheit durch die Musik markiert nun auch einen Wandel im Seelisch-Geistigen Gregors. Denn eingangs lässt uns Kafka wissen (fett-kursiv RS): "Nur die Schwester war Gregor doch noch nahe geblieben, und es war sein geheimer Plan, sie, die zum Unterschied von Gregor Musik sehr liebte und rührend Violine zu spielen verstand, nächstes Jahr, ohne Rücksicht auf die großen Kosten, die das verursachen mußte, und die man schon auf andere Weise hereinbringen würde, auf das Konservatorium zu schicken."
        An dieser Stelle wird Gregor wie Grete und er holt sich durch die Identifikation ein Stück verlorene Bindungsbeziehung zurück. So viel zur Psychologie dieser Veränderung.
        Doch nun zurück zur paradoxen Vieldeutigkeit. "War er ein Tier, da ihn Musik so ergriff"? Die Wort-Paradoxie ist hier vieldeutig: (1) Tier als jemand, der seine menschliche Beherrschung verliert und seinem Instinkt oder Trieb - hier hin zur Musikquelle - folgen muss. (2) Tier war er ja in äußerer Gestalt; die Paradoxie besteht hier darin, wie kann er geworden sein, was er schon "ist", nämlich äußerlich Käfer? (3) Seelisch-geistig ist er Mensch geblieben, was die surreale Tragödie ja ausmacht, da es von der Familie nicht bemerkt und nicht für möglich gehalten wird. (4) Ergriffen sein durch Musik passt nicht zum Tierbegriff. Vielfalt, Rätsel und Geheimnis erscheinen in dieser Erzählung als ein wichtiges (semantisches) Sprachelement.


    4.  Die Persönlichkeiten, Charaktere und das Familiensystem

    Gregor der Mensch
    Selbstzeugnis: "›Dies frühzeitige Aufstehen‹, dachte er, ›macht einen ganz blödsinnig. Der Mensch muß seinen Schlaf haben. Andere Reisende leben wie Haremsfrauen. Wenn ich zum Beispiel im Laufe des Vormittags ins Gasthaus zurückgehe, um die erlangten Aufträge zu überschreiben, sitzen diese Herren erst beim Frühstück. Das sollte ich bei meinem Chef versuchen; ich würde auf der Stelle hinausfliegen. Wer weiß übrigens, ob das nicht sehr gut für mich wäre. Wenn ich mich nicht wegen meiner Eltern zurückhielte, ich hätte längst gekündigt, ich wäre vor den Chef hingetreten und hätte ihm meine Meinung von Grund des Herzens aus gesagt. Vom Pult hätte er fallen müssen! Es ist auch eine sonderbare Art, sich auf das Pult zu setzen und von der Höhe herab mit dem Angestellten zu reden, der überdies wegen der Schwerhörigkeit des Chefs ganz nahe herantreten muß. Nun, die Hoffnung ist noch nicht gänzlich aufgegeben; habe ich einmal das Geld beisammen, um die Schuld der Eltern an ihn abzuzahlen – es dürfte noch fünf bis sechs Jahre dauern –, mache ich die Sache unbedingt. Dann wird der große Schnitt gemacht. Vorläufig allerdings muß ich aufstehen, denn mein Zug fährt um fünf.‹"
        Hierzu die Mutter: "Der Junge hat ja nichts im Kopf als das Geschäft. Ich ärgere mich schon fast, daß er abends niemals ausgeht; jetzt war er doch acht Tage in der Stadt, aber jeden Abend war er zu Hause. Da sitzt er bei uns am Tisch und liest still die Zeitung oder studiert Fahrpläne. Es ist schon eine Zerstreuung für ihn, wenn er sich mit Laubsägearbeiten beschäftigt. Da hat er zum Beispiel im Laufe von zwei, drei Abenden einen kleinen Rahmen geschnitzt; Sie werden staunen, wie hübsch er ist; er hängt drin im Zimmer."
        "... Photographie Gregors aus seiner Militärzeit, die ihn als Leutnant darstellte, wie er, die Hand am Degen, sorglos lächelnd, Respekt für seine Haltung und Uniform verlangte."

    Gregor der Menschen-Käfer (Zwitter) - Art und Weise der "Verkäferung".
    Gregor, der Menschenkäfer ist eine ungewöhnliche Form eines Zwitters. Die Verwandlung der Körpergestalt ist über Nacht auf einmal da. Die körpernahen Empfindungen und Sensorik entwickeln sich in Richtung Käfer, die seelisch-geistige Funktionalität bleibt voll erhalten. Zunächst kommt es gleich am ersten Tag zum Verlust der Sprechfähigkeit. Das Nachlassen der Sehfähigkeiten in Richtung Käfersehen vollzieht sich langsam und allmählich.  Durch Kafkas unvergleichliche Art der Andeutung, die viel Raum für eigene Phantasie lässt, bleibt es immer spannend, wie weit die "Verkäferung" noch fortschreitet. Die LeserIn wird wachsam gehalten, sich zu fragen, wie weit geht es noch, wie entwickelt es sich die Verkäferung bzw. gibt es Zeichen, dass eine Rückbildung einsetzt?

    Der Verlust der Sprechfähigkeit vollzieht sich am ersten Tag
    Nur am frühen Morgen der Verwandlung kann Gregor noch sprechen, wenn er auch schon Veränderungen bemerkt ("Die sanfte Stimme! Gregor erschrak, als er seine antwortende Stimme hörte, die wohl unverkennbar seine frühere war, in die sich aber, wie von unten her, ein nicht zu unterdrückendes, schmerzliches Piepsen mischte, das die Worte förmlich nur im ersten Augenblick in ihrer Deutlichkeit beließ, um sie im Nachklang derart zu zerstören, daß man nicht wußte, ob man recht gehört hatte. Gregor hatte ausführlich antworten und alles erklären wollen, beschränkte sich aber bei diesen Umständen darauf, zu sagen: »Ja, ja, danke Mutter, ich stehe schon auf.« Infolge der Holztür war die Veränderung in Gregors Stimme draußen wohl nicht zu merken, denn die Mutter beruhigte sich mit dieser Er klärung und schlürfte davon. ... "Nach beiden Seiten hin antwortete Gregor: »Bin schon fertig«, bemühte sich, durch die sorgfältigste Aussprache und durch Einschaltung von langen Pausen zwischen den einzelnen Worten seiner Stimme alles Auffallende zu nehmen.")
        Als der Prokurist auftaucht, um nach Gregor zu fragen, bildet sich die Sprechfähigkeit ersichtlich zurück: "»Haben Sie auch nur ein Wort verstanden?« fragte der Prokurist die Eltern, »er macht sich doch wohl nicht einen Narren aus uns?« »Um Gottes willen«, rief die Mutter schon unter Weinen, »er ist vielleicht schwerkrank, und wir quälen ihn. Grete! Grete!« schrie sie dann. »Mutter?« rief die Schwester von der anderen Seite. Sie verständigten sich durch Gregors Zimmer. »Du mußt augenblicklich zum Arzt. Gregor ist krank. Rasch um den Arzt. Hast du Gregor jetzt reden hören?« »Das war eine Tierstimme«, sagte der Prokurist, auffallend leise gegenüber dem Schreien der Mutter. »Anna! Anna!« rief der Vater durch das Vorzimmer in die Küche und klatschte in die Hände, »sofort einen Schlosser holen!« Und schon liefen die zwei Mädchen mit rauschenden Röcken durch das Vorzimmer – wie hatte sich die Schwester denn so schnell angezogen? – und rissen die Wohnungstüre auf. Man hörte gar nicht die Türe zuschlagen; sie hatten sie wohl offen gelassen, wie es in Wohnungen zu sein pflegt, in denen ein großes Unglück geschehen ist." [66]
        "Gregor war aber viel ruhiger geworden. Man verstand zwar also seine Worte nicht mehr, trotzdem sie ihm genug klar, klarer als früher, vorgekommen waren, vielleicht infolge der Gewöhnung des Ohres. Aber immerhin glaubte man nun schon daran, daß es mit ihm nicht ganz in Ordnung war, und war bereit, ihm zu helfen. Die Zuversicht und Sicherheit, mit welchen die ersten Anordnungen getroffen worden waren, taten ihm wohl. Er fühlte sich wieder einbezogen in den menschlichen Kreis und erhoffte von beiden, vom Arzt und vom Schlosser, ohne sie eigentlich genau zu scheiden, großartige und überraschende Leistungen. Um für die sich nähernden entscheidenden Besprechungen eine möglichst klare Stimme zu bekommen, hustete er ein wenig ab, allerdings bemüht, dies ganz gedämpft zu tun, da möglicherweise auch schon dieses Geräusch anders als menschlicher Husten klang, was er selbst zu entscheiden sich nicht mehr getraute."
        Kurz danach äußert sich Gregor aber noch einmal gegenüber dem Prokuristen: "»Nun«, sagte Gregor und war sich dessen wohl bewußt, daß er der einzige war, der die Ruhe bewahrt hatte, »ich werde mich gleich anziehen, die Kollektion zusammenpacken und wegfahren. Wollt ihr, wollt ihr mich wegfahren lassen? Nun, Herr Prokurist, Sie sehen, ich bin nicht starrköpfig und ich arbeite gern, das Reisen ist beschwerlich, aber ich könnte ohne das Reisen nicht leben. Wohin gehen Sie denn, Herr Prokurist? Ins Geschäft? Ja? Werden Sie alles wahrheitsgetreu berichten? Man kann im Augenblick unfähig sein zu arbeiten, aber dann ist gerade der richtige Zeitpunkt, sich an die früheren Leistungen zu erinnern und zu bedenken, daß man später, nach Beseitigung des Hindernisses, gewiß desto fleißiger und gesammelter arbeiten wird. Ich bin ja dem Herrn Chef so sehr verpflichtet, das wissen Sie doch recht gut. Andererseits habe ich die Sorge um meine Eltern und die Schwester. Ich bin in der Klemme, ich werde mich aber auch wieder herausarbeiten. Machen Sie es mir aber nicht schwieriger, als es schon ist. Halten Sie im Geschäft meine Partei! Man liebt den Reisenden nicht, ich weiß. Man denkt, er verdient ein Heidengeld und führt dabei ein schönes Leben. Man hat eben keine besondere Veranlassung, dieses Vorurteil besser zu durchdenken. Sie aber, Herr Prokurist, Sie haben eine besseren Überblick über die Verhältnisse als das sonstige Personal, ja sogar, ganz im Vertrauen gesagt, einen besseren Überblick als der Herr Chef selbst, der in seiner Eigenschaft als Unternehmer sich in seinem Urteil leicht zuungunsten eines Angestellten beirren läßt. Sie wissen auch sehr wohl, daß der Reisende, der fast das ganze Jahr außerhalb des Geschäftes ist, so leicht ein Opfer von Klatschereien, Zufälligkeiten und grundlosen Beschwerden werden kann, gegen die sich zu wehren ihm ganz unmöglich ist, da er von ihnen meistens gar nichts erfährt und nur dann, wenn er erschöpft eine Reise beendet hat, zu Hause die schlimmen, auf ihre Ursachen hin nicht mehr zu durchschauenden Folgen am eigenen Leibe zu spüren bekommt. Herr Prokurist, gehen Sie nicht weg, ohne mir ein Wort gesagt zu haben, das mir zeigt, daß Sie mir wenigstens zu einem kleinen Teil recht geben!«
        Aber der Prokurist hatte sich schon bei den ersten Worten Gregors abgewendet, und nur über die zuckende Schulter hinweg sah er mit aufgeworfenen Lippen nach Gregor zurück. Und während Gregors Rede stand er keinen Augenblick still, sondern verzog sich, ohne Gregor aus den Augen zu lassen, gegen die Tür, aber ganz allmählich, als bestehe ein geheimes Verbot, das Zimmer zu verlassen. Schon war er im Vorzimmer, und nach der plötzlichen Bewegung, mit der er zum letzten Mal den Fuß aus dem Wohnzimmer zog, hätte man glauben können, er habe sich soeben die Sohle verbrannt. Im Vorzimmer aber streckte er die rechte Hand weit von sich zur Treppe hin, als warte dort auf ihn eine geradezu überirdische Erlösung."
        Im Teil II. (S. 24; 81 Zeno] lässt Kafka den Verlust der Sprechfähigkeit durch Gregor klar zum Ausdruck bringen: "Hätte Gregor nur mit der Schwester sprechen und ihr für alles danken können, was sie für ihn machen mußte, er hätte ihre Dienste leichter ertragen; so aber litt er darunter."

    Exkurs: Entwicklung der Gefühle neben den Empfindungen
    Zu den Paradoxien der Erzählung gehört, dass Gregor seine Verwandlung in einen Käfer ohne jede Emotion und anscheinend voller Gleichmut wie ein außenstehender Beobachter registriert. Seine erste Reaktion ist nüchtern ("»Was ist mit mir geschehen?« dachte er. Es war kein Traum."), schicksalsergeben und sogleich um Vernunft bemüht ("Gleichzeitig aber vergaß er nicht, sich zwischendurch daran zu erinnern, daß viel besser als verzweifelte Entschlüsse ruhige und ruhigste Überlegung sei."), mit der neuen Situation fertig zu werden - also sehr ungewöhnlich. Erst ganz langsam und allmählich tauchen Gefühle (fett-kursiv IRS) neben Empfindungen (nur-fett IRS) auf :
     

      "Gregors Blick richtete sich dann zum Fenster, und das trübe Wetter – man hörte Regentropfen auf das Fensterblech aufschlagen – machte ihn ganz melancholisch." Gregor reagiert nicht etwa melancholisch, weil er sich zum Käfer verwandelte, sondern wegen des "trüben Wetters"
      " .... und ließ erst ab, als er in der Seite einen noch nie gefühlten, leichten, dumpfen Schmerz zu fühlen begann."

      ›Ach Gott‹, dachte er, ›was für einen anstrengenden Beruf habe ich gewählt! Tagaus, tagein auf der Reise. Die geschäftlichen Aufregungen sind viel größer als im eigentlichen Geschäft zu Hause, und außerdem ist mir noch diese Plage des Reisens auferlegt, die Sorgen um die Zuganschlüsse, das unregelmäßige, schlechte Essen, ein immer wechselnder, nie andauernder, nie herzlich werdender menschlicher Verkehr. Der Teufel soll das alles holen!‹ Er fühlte ein leichtes Jucken oben auf dem Bauch; schob sich auf dem Rücken langsam näher zum Bettpfosten, um den Kopf besser heben zu können; fand die juckende Stelle, die mit lauter kleinen weißen Pünktchen besetzt war, die er nicht zu beurteilen verstand; und wollte mit einem Bein die Stelle betasten, zog es aber gleich zurück, denn bei der Berührung umwehten ihn Kälteschauer.

      "Und mehr infolge der Erregung, in welche Gregor durch diese Überlegungen versetzt wurde, als infolge eines richtigen Entschlusses, schwang er sich mit aller Macht aus dem Bett. Es gab einen lauten Schlag, aber ein eigentlicher Krach war es nicht. Ein wenig wurde der Fall durch den Teppich abgeschwächt, auch war der Rücken elastischer, als Gregor gedacht hatte, daher kam der nicht gar so auffallende dumpfe Klang. Nur den Kopf hatte er nicht vorsichtig genug gehalten und ihn angeschlagen; er drehte ihn und rieb ihn an dem Teppich vor Ärger und Schmerz."

      "Aber Herr Prokurist«, rief Gregor außer sich und vergaß in der Aufregung alles andere, »ich mache ja sofort, augenblicklich auf. Ein leichtes Unwohlsein, ein Schwindelanfall, haben mich verhindert aufzustehen."

      "Wenn die Rede auf diese Notwendigkeit des Geldverdienens kam, ließ zuerst immer Gregor die Türe los und warf sich auf das neben der Tür befindliche kühle Ledersofa, denn ihm war ganz heiß vor Beschämung und Trauer."
      ... ... ...


    Zusammenfassung: Die Persönlichkeit Gregors
    Gregor lebt nur durch die Bedeutung, die er für seine Familie hat. Das scheint inzwischen sein einziges Lebensinteresse, aber auch sein Stolz zu sein. Obwohl jung, wird er nicht so geschildert, sondern als ein asexuell-asketischer "Bürgermönch", der sein Eigenleben freiwillig und so vollständig aufgibt, dass es unnormal und unnatürlich erscheint. Seine Reaktion auf seine Verkäferung ist geradezu grotesk rational, vernünftig, schicksalsergeben.
        Wie könnte man Gregor diagnostizieren? Sein Lebensstil ist zwanghaft-depressiv-aufopfernd und schicksalsergeben, seine Sexualität wirkt schizoid gehemmt bis verflüchtigt und seine Vitalität auf Arbeit und familiäre Fürsorge reduziert. Er leidet einerseits unter den Verhältnissen, aber er genießt sie auch, so dass sich zwangsläufig eine starke Ambivalenz ergibt, die Gregor zwar kognitiv schildert, aber emotional nicht so richtig zu erleben scheint. Und er wirkt auch emotional und affektiv flach, verdünnt bis vertrocknet. Nur einmal taucht erotisch-sexuelles Verlangen auf - und da ist es inzestuös auf die Schwester gerichtet, genau dann, als sie ihn verstößt und damit sein Todesurteil verkündet. Verklemmung, Inzestwunsch und Todesurteil sind hier nahe beieinander.



    Grete (17), die Schwester.

    Obwohl sie nach Gregor die wichtigste Rolle spielt und ihr Verhalten den Ausschlag für Gregors Tod gibt, bleibt sie als Persönlichkeit und Charakter ziemlich farblos. Das ist wieder ein merkwürdiger Kontrast, den Kafka hier erzeugt. Im folgenden tragen wir das wenige Material zusammen, das sich aus dem Werk zur Persönlichkeitscharakteristik ergibt.
        Gregor denkt: "Und die Schwester sollte Geld verdienen, die noch ein Kind war mit ihren siebzehn Jahren, und der ihre bisherige Lebensweise so sehr zu gönnen war, die daraus bestanden hatte, sich nett zu kleiden, lange zu schlafen, in der Wirtschaft mitzuhelfen, an ein paar bescheidenen Vergnügungen sich zu beteiligen und vor allem Violine zu spielen?"
        Ein etwas nutzloses Mädchen: "In den ersten vierzehn Tagen konnten es die Eltern nicht über sich bringen, zu ihm hereinzukommen, und er hörte oft, wie sie die jetzige Arbeit der Schwester völlig anerkannten, während sie sich bisher häufig über die Schwester geärgert hatten, weil sie ihnen als ein etwas nutzloses Mädchen erschienen war. Nun aber warteten oft beide, der Vater und die Mutter, vor Gregors Zimmer, während die Schwester dort aufräumte, und kaum war sie herausgekommen, mußte sie ganz genau erzählen, wie es in dem Zimmer aussah, was Gregor gegessen hatte, wie er sich diesmal benommen hatte, und ob vielleicht eine kleine Besserung zu bemerken war." (S. 26).
        Vor Gregors Verwandlung scheint Gretes größte Begeisterung und wesentlichste Beschäftigung das Violinspiel zu sein. Die Schwester kümmert sich die erste Hälfte der Erzählung taktvoll und verantwortungsbewusst um Gregor. In der zweiten Hälfte des 2. Teil kippt ihre Haltung. Dafür liefert die Erzählung zwei Hauptgründe: zum einen die Gewöhnung, Eintönigkeit und Aussichtslosigkeit der Versorgung des Gregor-Käfers, der zunehmend zum lästigen Pflegefall geworden ist. Andererseits aber auch die Beanspruchung durch die neuen Aufgaben - arbeiten, lernen, weiterbilden - die ganz objektiv auch viel weniger Zeit für die Versorgung des Gregor-Käfers lassen.
        Innerhalb der Familie hatte sie vor der Verkäferung Gregors die schwächste Position: "ein etwas nutzloses Mädchen". Aber durch die Bewältigung der Verkäferung Gregors gewinnt sie plötzlich Macht und Bedeutung, die ihre Eltern auch anerkennen: sie wird zur Gregor-Käfer "Sachverständigen". Und sie verteidigt, pflegt und pocht auch auf ihre neue Autorität. Außerdem arbeitet sie, lernt und bildet sich fort.
        Nachdem Gregor als Versorger ausfiel, wurde auch sie gefordert. Sie entwickelt sich, arbeitet (Verkäuferin), lernt und bildet sich weiter (Steno, französisch) und auch dadurch gewinnt sie Bedeutung und Ansehen bei ihren Eltern. Während Gregor untergeht, wird sie zur jungen Frau, wie der Schluss des Stückes eindrucksvoll hervorhebt: "Während sie sich so unterhielten, fiel es Herrn und Frau Samsa im Anblick ihrer immer lebhafter werdenden Tochter fast gleichzeitig ein, wie sie in der letzten Zeit trotz aller Plage, die ihre Wangen bleich gemacht hatte, zu einem schönen und üppigen Mädchen aufgeblüht war. Stiller werdend und fast unbewußt durch Blicke sich verständigend, dachten sie daran, daß es nun Zeit sein werde, auch einen braven Mann für sie zu suchen. Und es war ihnen wie eine Bestätigung ihrer neuen Träume und guten Absichten, als am Ziele ihrer Fahrt die Tochter als erste sich erhob und ihren jungen Körper dehnte."

    Zusammenfassung: Die Persönlichkeit der Schwester
    Grete hat als Persönlichkeit zu Beginn der Erzählung noch wenig Konturen. Sie nutzt ihre Chance zur Profilierung als Gregor- Käfer- Sachverständige und Managerin zur Erleichterung ihrer Eltern. Sie mausert sich unter den neuen Anforderungen, indem sie arbeitet, lernt und sich weiterbildet. Die 17jährige übernimmt sich - zunächst ohne es zu bemerken - und ihre einst taktvoll-fürsorgliche Einstellung und Haltung zu Gregor-Käfer beginnt zu kippen bis hin zum Todesurteil. In dem Maße, wie ihre eigene Selbständigkeit und Integration in die Lebensanforderungen zunimmt, entfernt sie sich von Gregor-Käfer. Als dieser auch noch in ihre Violindarbietung hineinstört, kommt das Faß zum Überlaufen, wobei Gregor-Käfer just in dieser Szene inzestuöse Wünsche phantasiert. Sie kann nicht mehr und befreit sich durch die energische innere Entscheidung: "»Weg muß er«, rief die Schwester, »das ist das einzige Mittel, Vater. Du mußt bloß den Gedanken loszuwerden suchen, daß es Gregor ist. Daß wir es so lange geglaubt haben, ist ja unser eigentliches Unglück. Aber wie kann es denn Gregor sein? Wenn es Gregor wäre, er hätte längst eingesehen, daß ein Zusammenleben von Menschen mit einem solchen Tier nicht möglich ist, und wäre freiwillig fortgegangen. Wir hätten dann keinen Bruder, aber könnten weiter leben und sein Andenken in Ehren halten. So aber verfolgt uns dieses Tier, vertreibt die Zimmerherren, will offenbar die ganze Wohnung einnehmen und uns auf der Gasse übernachten lassen."



    Mutter
    Zu Beginn der Erzählung wird die Mutter von Gregor als sanft charakterisiert: "»Gregor«, rief es – es war die Mutter-, »es ist drei Viertel sieben. Wolltest du nicht wegfahren?« Die sanfte Stimme!" Sie kommt auch als erste auf die naheliegende Idee: "»Du mußt augenblicklich zum Arzt. Gregor ist krank. Rasch um den Arzt."
        Später stellt sich heraus: die Mutter ist nicht wirklich-alltäglich für Gregor da; mehr intentional aus der Ferne, nur in bedrohlichen Grenzsituationen schützt sie ihn. Sie ist daher auch dankbar, dass Grete die ganze Verantwortung der Versorgung von Gregor-Käfer übernimmt. Später drängt es sie zu Gregor, aber sie wird abgeschirmt: "Die Mutter wollte Gregor verhältnismäßig bald besuchen, aber der Vater und die Schwester hielten sie zuerst aus Vernunftgründen zurück, denen Gregor sehr aufmerksam zuhörte, [Umbruch] und die er vollständig billigte. Später aber mußte man sie mit Gewalt zurückhalten, und wenn sie dann rief: »Laßt mich doch zu Gregor, er ist ja mein unglücklicher Sohn! Begreift ihr es denn nicht, daß ich zu ihm muß?«, dann dachte Gregor, daß es vielleicht doch gut wäre, wenn die Mutter hereinkäme, nicht jeden Tag natürlich, aber vielleicht einmal in der Woche; sie verstand doch alles viel besser als die Schwester, die trotz all ihrem Mute doch nur ein Kind war und im letzten Grunde vielleicht nur aus kindlichem Leichtsinn eine so schwere Aufgabe übernommen hatte."
        Die Mutter bremst auch den Vater, als dieser Gregor mit Äpfeln bewirft. Sie kommt allerdings zu spät, um zu verhindern, dass der Vater Gregor-Käfer mit einem Apfel ernsthaft verletzt, der ihm seitdem im Rücken steckt, weil jeder jegliche Berührung Gregors ängstlich vermeidet.

    Zusammenfassung: Die Persönlichkeit der Mutter
    Die Mutter wird zwar als typischer, instinkthafter, aber schwacher und hilfloser Muttertyp geschildert, die ihrem Sohn zwar helfen möchte, aber es letztlich ob seiner Verwandlung nicht kann. Das ist besonders fatal, weil sie die Einzige ist, die in Gregor-Käfer noch klar Gregor, ihren Sohn sieht.



    Vater
    "... und schon klopfte an der einen Seitentür der Vater, schwach, aber mit der Faust. »Gregor, Gregor«, rief er, »was ist denn?« Und nach einer kleinen Weile mahnte er nochmals mit tieferer Stimme: »Gregor! Gregor!«"
        "Zwei starke Leute – er dachte an seinen Vater ... "
    "Der Vater ballte mit feindseligem Ausdruck die Faust, als wolle er Gregor in sein Zimmer zurückstoßen, sah sich dann unsicher im Wohnzimmer um, beschattete dann mit den Händen die Augen und weinte, daß sich seine mächtige Brust schüttelte."
        "... denn für den Vater war das Frühstück die wichtigste Mahlzeit des Tages, die er bei der Lektüre verschiedener Zeitungen stundenlang hinzog"
        "Leider schien nun auch diese Flucht des Prokuristen den Vater, der bisher verhältnismäßig gefaßt gewesen war, völlig zu verwirren, denn statt selbst dem Prokuristen nachzulaufen oder wenigstens Gregor in der Verfolgung nicht zu hindern, packte er mit der Rechten den Stock des Prokuristen, den dieser mit Hut und Überzieher auf einem Sessel zurückgelassen hatte, holte mit der Linken eine große Zeitung vom Tisch und machte sich unter Füßestampfen daran, Gregor durch Schwenken des Stockes und der Zeitung in sein Zimmer zurückzutreiben. Kein Bitten Gregors half, kein Bitten wurde auch verstanden, er mochte den Kopf noch so [Umbruch] demütig drehen, der Vater stampfte nur stärker mit den Füßen. Drüben hatte die Mutter trotz des kühlen Wetters ein Fenster aufgerissen, und hinausgelehnt drückte sie ihr Gesicht weit außerhalb des Fensters in ihre Hände. Zwischen Gasse und Treppenhaus entstand eine starke Zugluft, die Fenstervorhänge flogen auf, die Zeitungen auf dem Tische rauschten, einzelne Blätter wehten über den Boden hin. Unerbittlich drängte der Vater und stieß Zischlaute aus, wie ein Wilder"  ... "– da gab ihm der Vater von hinten einen jetzt wahrhaftig erlösenden starken Stoß, und er flog, heftig blutend, weit in sein Zimmer hinein. Die Tür wurde noch mit dem Stock zugeschlagen, dann war es endlich still."
        "So hatte er sich den Vater wirklich nicht vorgestellt, wie er jetzt dastand; allerdings hatte er in der letzten Zeit über dem neuartigen Herumkriechen versäumt, sich so wie früher um die Vorgänge in der übrigen Wohnung zu kümmern, und hätte eigentlich darauf gefaßt sein müssen, veränderte Verhältnisse anzutreffen. Trotzdem, trotzdem, war das noch der Vater? Der gleiche Mann, der müde im Bett vergraben lag, wenn früher Gregor zu einer Geschäftsreise ausgerückt war; der ihn an Abenden der Heimkehr im Schlafrock im Lehnstuhl empfangen hatte; gar nicht recht imstande war, aufzustehen, sondern [Umbruch] zum Zeichen der Freude nur die Arme gehoben hatte, und der bei den seltenen gemeinsamen Spaziergängen an ein paar Sonntagen im Jahr und an den höchsten Feiertagen zwischen Gregor und der Mutter, die schon an und für sich langsam gingen, immer noch ein wenig langsamer, in seinen alten Mantel eingepackt, mit stets vorsichtig aufgesetztem Krückstock sich vorwärts arbeitete und, wenn er etwas sagen wollte, fast immer stillstand und seine Begleitung um sich versammelte? Nun aber war er recht gut aufgerichtet; in eine straffe blaue Uniform mit Goldknöpfen gekleidet, wie sie Diener der Bankinstitute tragen; über dem hohen steifen Kragen des Rockes entwickelte sich sein starkes Doppelkinn; unter den buschigen Augenbrauen drang der Blick der schwarzen Augen frisch und aufmerksam hervor; das sonst zerzauste weiße Haar war zu einer peinlich genauen, leuchtenden Scheitelfrisur niedergekämmt. Er warf seine Mütze, auf der ein Goldmonogramm, wahrscheinlich das einer Bank, angebracht war, über das ganze Zimmer im Bogen auf das Kanapee hin und ging, die Enden seines langen Uniformrockes zurückgeschlagen, die Hände in den Hosentaschen, mit verbissenem Gesicht auf Gregor zu."

    Zusammenfassung: Die Persönlichkeit des Vaters
    Geschäftlich zwar gescheitert, aber doch noch die Familien-Autorität und dominante Position in der Familie, obwohl er der Rolle "Familienoberhaupt" nicht recht gewachsen erscheint. Nach der Verwandlung Gregors wird der Vater deutlich lebendiger, kräftiger, gepflegter; munter, aktiv, keine Spur mehr von den früheren Zipperlein. Er ist auch interessiert an Gregor-Käfer und zum Schluss, als es um die Beseitigung Gregors geht, sogar sichtlich gehemmt ("»Wenn er uns verstünde«, sagte der Vater halb fragend;)
       Anmerkung: Abgesehen davon, dass  Gregors Vater mit Kafkas - erfolgreichem und desinteressiertem - Vater überhaupt nicht vergleichbar ist, ist ein solcher Sprung über die werkorientierte Interpretation hinaus weder nötig noch förderlich.



    Familiensystem
    "Gregors Sorge war damals nur gewesen, alles daran zusetzen, um die Familie das geschäftliche Unglück, das alle in eine vollständige Hoffnungslosigkeit gebracht hatte, möglichst rasch vergessen zu [Umbruch] lassen. Und so hatte er damals mit ganz besonderem Feuer zu arbeiten angefangen und war fast über Nacht aus einem kleinen Kommis ein Reisender geworden, der natürlich ganz andere Möglichkeiten des Geldverdienens hatte, und dessen Arbeitserfolge sich sofort in Form der Provision zu Bargeld verwandelten, das der erstaunten und beglückten Familie zu Hause auf den Tisch gelegt werden konnte. Es waren schöne Zeiten gewesen, und niemals nachher hatten sie sich, wenigstens in diesem Glanze, wiederholt, trotzdem Gregor später so viel Geld verdiente, daß er den Aufwand der ganzen Familie zu tragen imstande war und auch trug. Man hatte sich eben daran gewöhnt, sowohl die Familie als auch Gregor, man nahm das Geld dankbar an, er lieferte es gern ab, aber eine besondere Wärme wollte sich nicht mehr ergeben. Nur die Schwester war Gregor doch noch nahe geblieben, und es war sein geheimer Plan, sie, die zum Unterschied von Gregor Musik sehr liebte und rührend Violine zu spielen verstand, nächstes Jahr, ohne Rücksicht auf die großen Kosten, die das verursachen mußte, und die man schon auf andere Weise hereinbringen würde, auf das Konservatorium zu schicken. Öfters während der kurzen Aufenthalte Gregors in der Stadt wurde in den Gesprächen mit der Schwester das Konservatorium erwähnt, aber immer nur als schöner Traum, an dessen Verwirklichung nicht zu denken war, und die Eltern hörten nicht einmal diese unschuldigen Erwähnungen gern; aber Gregor dachte sehr bestimmt daran und beabsichtigte, es am Weihnachtsabend feierlich zu erklären."
       "In den ersten vierzehn Tagen konnten es die Eltern nicht über sich bringen, zu ihm hereinzukommen, und er hörte oft, wie sie die jetzige Arbeit der Schwester völlig anerkannten, während sie sich bisher häufig über die Schwester geärgert hatten, weil sie ihnen als ein etwas nutzloses Mädchen erschienen war. Nun aber warteten oft beide, der Vater und die Mutter, vor Gregors Zimmer, während die Schwester dort aufräumte, und kaum war sie herausgekommen, mußte sie ganz genau erzählen, wie es in dem Zimmer aussah, was Gregor gegessen hatte, wie er sich diesmal benommen hatte, und ob vielleicht eine kleine Besserung zu bemerken war. Die Mutter übrigens wollte verhältnismäßig bald Gregor besuchen, aber der Vater und die Schwester hielten sie zuerst mit Vernunftgründen zurück, denen Gregor sehr aufmerksam zuhörte, [Umbruch] und die er vollständig billigte. Später aber mußte man sie mit Gewalt zurückhalten, und wenn sie dann rief: »Laßt mich doch zu Gregor, er ist ja mein unglücklicher Sohn! Begreift ihr es denn nicht, daß ich zu ihm muß?«, dann dachte Gregor, daß es vielleicht doch gut wäre, wenn die Mutter hereinkäme, nicht jeden Tag natürlich, aber vielleicht einmal in der Woche; sie verstand doch alles viel besser als die Schwester, die trotz all ihrem Mute doch nur ein Kind war und im letzten Grunde vielleicht nur aus kindlichem Leichtsinn eine so schwere Aufgabe übernommen hatte."

    Zusammenfassung: Das Familiensystem Samsa
    Die patriarchalische Familie hat in dieser Erzählung einen hohen Wert: alles dreht sich letztlich um sie. Der Vater hat - trotz des Konkurses - das Sagen. Gregor hat die gesamte wirtschaftliche und finanzielle Last für die Familie zu tragen, was er auch kann, im Prinzip gern tut und was ihn mit Stolz ob seiner Tüchtigkeit und Bedeutung erfüllt, wenn ihm auch seine Arbeitssituation gar nicht gefällt und er lieber heute als morgen kündigen würde. Obwohl Vater, Mutter und die 17jährige Grete unverständlicherweise gar nichts arbeiten und zu Hause sind, leistet sich die Familie auch noch ein Dienstmädchen. Der Vater ein - früher - selbständiger Geschäftsmann, Gregor Leutnant, eine große Wohnung, wenn auch in den oberen Geschossen, und ein Dienstmädchen, das spricht nicht für einen kleinbürgerlichen Lebensstil, zumindest nicht äußerlich; die geistige Haltung und ideologische Einstellung mag eine andere Frage sein. Andererseits schildert Kafka die nunmehr arbeitende Familie als arm: "Was die Welt von armen Leuten verlangt, erfüllten sie bis zum äußersten, der Vater holte den kleinen Bankbeamten das Frühstück, die Mutter opferte sich für die Wäsche fremder Leute, die Schwester lief nach dem Befehl der Kunden hinter dem Pulte hin und her, aber weiter reichten die Kräfte der Familie schon nicht." So kommt die Familie durch die blanke Not in die Gänge, obwohl die Rücklagen 1-2 Jahre reichen könnten.
        Die Familie ist durch die Verwandlung Gregors natürlich und verständlicherweise geschockt, verwirrt, rat- und hilflos. Sie ist besorgt, duldet Gregor-Käfer aber erst einmal nicht nur, sondern sie ist auch interessiert an seinem Verhalten. Merkwürdig ist, dass sie sich um keinerlei Hilfe bemüht und keinen Kommunikationsversuch unternimmt. Sie reden und beraten sich zwar viel, aber dabei kommt nichts Konstruktives heraus. An dieser Stelle mag es reizvoll sein, sich zu überlegen, was für einen Verlauf die Geschichte wohl hätte nehmen können, wenn die Familie einen Familientherapeuten aufgesucht hätte.

    Exkurs: Wie Gregor den Menschen-Käfer und Zwitter kurieren ?
    Was wären die richtigen Heilmittel gegen Gregors Verwandlung gewesen, was hätte die Familie tun können? Aus dieser Fragestellung heraus könnte man eine ganze Reihe von Verwandlungen I, II, III, IV, V, .... schreiben, je nachdem, welchen Heilungsweg man nimmt. Aber es wäre nicht Kafka ... und scheint angesichts der Ungeheuerlichkeit der Verwandlung und den bekannten Heilmöglichkeiten (nämlich keine) natürlich auch nicht sinnvoll. Es ist nur ein Gedankenspiel, das bestenfalls dazu beitragen kann, herauszufinden, weshalb die Familie außen keine Hilfe sucht. Was hätte sie tun können? Was macht man in einem solchen - im wahrsten Sinne des Wortes - unmöglichen Fall?
        Wen könnte man ansprechen; wo könnte man Hilfe holen? Beim Psychiater? Familientherapeuten? Zauberer? Hexer? Schamanen? Bei denen die wissen, wie man Verwandlungen rückgängig machen kann (z. B. den Frosch an die Wand werfen), also Märchensachverständigen und VolkskundlerInnen? Aber damit wäre der Realcharakter des surrealen Stückes verschwunden, der ja gerade die besondere Eindringlichkeit und Dramatik ausmacht. Eine paradoxe Wirkung dieser Erzählung ist, dass die Surrealität besonders intensiv zum Ausdruck kommt, weil die Schilderung so alltagsnah und realistisch ist (anders gesagt: das Surreale wird real abgehandelt und dadurch noch surrealer).
        Und es ist auch nicht schwer sich vorzustellen, was geschehen wäre oder würde, wenn eine solche Verwandlung den Behörden, etwa dem Gesundheitsamt zur Kenntnis gelangt wäre. Die hätten die Kammerjäger vorbeigeschickt oder Gregor-Käfer abholen lassen, um ihn irgendwo hinzustecken, am wahrscheinlichsten erschiene dann eine Internierung in einer Sonderabteilung der Universität zur Erforschung des ungeheuerlichen Geschehens.


    5. Werkorientierte Wirkung und Interpretation.

    Die surreale Erzählung beeindruckt durch ihre schlichte Alltagssprache, Irritation und Spannung, die sich während des Lesens ergibt und die im Kontrast zu den geschilderten Ereignissen steht. Manches mussten wir mehrfach lesen, um es so richtig zu verstehen. Bereits der erste Satz schlägt ein wie eine Bombe: "Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt.", der sich dann als ein überdimensionaler und damit ebenfalls als surrealer Käfer entpuppt.

        Man sucht nach Gründen, sucht nach sinnvollen Reaktionen, vergleicht, versetzt sich in die Lage und stolpert über eine Reihe von Fragen. Das ist aber eines der Geheimnisse der Wirkung dieser Erzählung: es gibt keinen Grund: es ist einfach so. Damit ist eine wichtige Botschaft: das Schicksal braucht keine Gründe, es geschieht und vollzieht sich. Und so bleibt die Grundfrage nach dem Warum von Anfang bis Ende offen und ungelöst. Das erhält eine gewisse Spannung der LeserIn aufrecht, weil man immer hofft, dass eine Erklärung kommt, eine Lösung sich abzeichnet. Aber es kommt keine, womit die grausamste Botschaft für die Sinnsucher der Welt ist: es gibt weder eine Erklärung noch eine Lösung. Und so bewegt Kafka seine LeserInnen manchmal mehr durch das, was er auslässt und verschweigt als durch das, was er ausführt und seine LeserInnen wissen lässt.

        Kann man sich in eine solche Geschichte, in eine solche Verwandlung überhaupt einfühlen? Wohl nie so ganz. Warum tun sie dies und das nicht? Warum unternimmt Gregor keinerlei Anstalten, der Familie beizubringen, dass er sie versteht? Nun, so die Metaüberlegung, dann wäre es eine andere Geschichte. Kafka hat es aber gefallen, uns diese vorzusetzen. Bleiben wir also dabei und versuchen wir die Botschaft der Erzählung zu verstehen. Der totale Verlust an Normalität, Kommunikation und wichtigen Funktionen führt unausweichlich zur Ausgrenzung (Gefängnis, Getto) und am Ende auch zum Tod des entwerteten Verwandelten. Lösungen lassen sich zwar von außen leicht denken, aber sie sind, auch nur ein wenig eingefühlt, extrem schwierig und praktisch fast unmöglich. Die gnadenlose Unausweichlichkeit eines solchen Schicksalsschlages - totaler Verlust an Normalität, Kommunikation und wichtigen Funktionen  - wird uns gnadenlos in schlichter Alltagssprache vorgeführt. Mit diesem Schicksalsschlag, der - wie so oft in vielen Leben - nicht zu verstehen ist, tritt eine unaufhaltsame Eigendynamik in Kraft. Die Abwendung vom - in ihrer schärfsten Form der Tod des - Schwachen ist die Befreiung der Gebundenen und neu Erstarkten. Das Schicksal ist stärker als die Liebe und alle Familienbindungen, selbst der sehr guten. Das will zwar niemand hören, aber es scheint die bittere Wahrheit der Verwandlung Kafkas zu sein.
     
    Die radikalste Deutung der Botschaft der Verwandlung lautet (generalisiert): Wer sich selbst aufgibt und nur fremdbestimmt für andere lebt, verliert sein Menschsein (Käfer) und muss zu Grunde gehen. Und: Die durch übertriebene und vollständige Fürsorge behinderte und jeglicher Selbstverantwortung beraubten Familienangehörigen finden zu neuer Lebenskraft und blühen auf. Mit dieser Deutung ist die Verwandlung ein zutiefst antichristliches, aber sehr real-humanes Stück: Plädoyer und Mahnung für natürliche und gesunde Selbstentfaltung, für Verhältnismäßigkeit, Ausgewogen- und Ganzheit ("fördern und fordern"). Anders gesagt: gut sein ist keine lineare Funktion (je mehr, desto besser), sondern eher eine Gaußsche Glockenkurve, zu viel des Guten ist eben nicht mehr gut: es entmündigt, erdrückt, erstickt, lähmt - und ist damit eher eine häufig nicht erkannte Form von Störung oder Krankheit. (> Die Gewalt der Frommen [z.B. Haiti1542]; Shen Te). In letzter Konsequenz verkündet Kafka mit der Verwandlung die größte Ungeheuerlichkeit, die niemand hören und wahrhaben will: wer seine Nützlichkeit verliert und zum Dauer-Pflegefall wird, ist dem Tode geweiht, wenn die Pflege zu anstrengend wird. Und wenn die Umstände so schwierig und aussichtslos sind, hilft selbst eine langjährig gefestigte positive Bindungsbeziehung nicht. Das Besondere an Kafkas Botschaft der Verwandlung ist die stille Selbstverständlichkeit mit der er die Geschichte der Verwandlung schildert: schlicht beschreibend, ohne Anklage als wäre es das Natürlichste der Welt. 

        N.B. Aktuelle Bezüge durch eine ganz andere Tendenz von "fördern und fordern": LeserInnen der Verwandlung sollten sich gut vorstellen können, was in schlimmen Fällen Hartz IV., psychiatrische oder Altenpflegefälle an "gregorianischen" Erfahrungen für diejenigen bereit hält, die ihre Normalität, Kommunikativität und andere wichtige Funktionen verloren haben - oder, vereinfacht gesagt, nicht mehr nützlich sind.
     



    Eindrücke von der Inszenierung in der "Garage" am 26.1.8 [InfoTheater; PDF]

    Der Vorspann - der Gregors Leben vor der Verwandlung im Zeitraffer bot - passte für uns nicht: er nimmt dem Stück seine Paukenschlageröffnung: die erste Ungeheuerlichkeit: das Erwachen als Käfer. Zu Irritation trug auch die abstrakt-symbolische Verkäferung im Halbdunkel durch Gregor selbst bei (vielleicht der Anlass für die krasse Fehldeutung der Erlanger Nachrichten bei der Vorankündigung der Premiere).
        Die äußerliche Verwandlung (Badehose, Knieschoner und Halskrause: PDF),  war nicht überzeugend umgesetzt und für Erzählungsunkundige kaum verständlich. Das war nicht einmal die Andeutung einer wirklichen Käfergestalt, sondern ein Definitionskäfer für Fachkundige. Die zunehmende Verkäferung im körperlich-sensorischen Bereich wurde nicht so entwickelt wie in der Erzählung - vielleicht ist das aber auf der Bühne auch gar nicht möglich.
       Dramaturgie und Regie gönnten den 51 Seiten Text, der nur gesprochen wohl 2,5 bis 3 Stunden dauern würde, ganze 75 Minuten (ohne Pause), das Doppelte wäre wohl mindestens nötig. Und auch das ist - angesichts Kafkas Spezialität, zwischen den Zeilen, durch Weglassen und Andeuten viel mitzuteilen, womöglich auch noch zu wenig. Und so musste diese Inszenierung - ohne ersichtliche Not - sehr viel weglassen, kürzen und verdichten, wenn auch die wichtigsten Kernszenen formal dargestellt wurden. Der zentrale Konflikt, Gregor-Käfer kann alles verstehen, aber die Familie weiß es nicht, die Bedeutung des Verlustes der Kommunikativität, in der Erzählung an vielen Stellen eindringlich spürbar, ging in der Darstellung eher unter.
        Auch der durch die Verwandlung erzwungene Wandel der Familie kam in seiner inneren unaufhaltsamen Logik nicht so gut zum Ausdruck.
    Das beständige sich Bekrabbeln, um sich fassen und um sich fuchteln neben den intensiven Fingerbewegungen Gregor-Käfers blieb in seiner Symbolbedeutung unklar. Die Bedrückung des Eingesperrtseins und die große Bedeutung für die Familie, wenn Gregor-Käfer die ihm zugedachte Grenze übertritt, wurde nicht deutlich, obwohl er durch einen einfachen Zaun, der bei Grenzüberschreitung eingerissen wird, leicht zu realisieren gewesen wäre (gewöhnlich eine Stärke des Erlanger Theaters und der Garage mit einfachsten Mitteln große Wirkungen zu erzielen).
        Kafka gliederte seine Erzählung in drei gleich lange Abschnitte (je 17 Seiten), so dass eine werkgetreue Inszenierung sozusagen ganz werktreu und natürlich die Organisation von drei Aufzügen nahelegt: Verwandlung - Anpassung und Gewöhnung - Veränderung und Ende.
        Das einzigartig atmosphärische und "kafkaeske" dieser Erzählung auf die Bühne zu bringen, erscheint sehr schwierig, wenn nicht unmöglich oder eine Aufgabe für einen Brecht, so dass wir uns fragen, ob die Verwandlung ein guter Kandidat für die Bühne ist. Für diese These spricht auch, dass Kafka streng dagegen war, der Erzählung eine Illustration des Käfers beizugeben (> Schubiger 1969, S. 56).
        Wir meinen daher:  wir lesen die Verwandlung lieber.
    Die Schauspieler und ihr Team, besonders Gregor, überzeugten und erhielten am Schluss ihren verdienten ordentlichen Beifall.
     


    Literatur (Auswahl)

    Das Werk
    Kafka, Franz (2006). Sämtliche Werke. Bath (UK): Parragon.

    Interpretationshilfen

    • Abraham, Ulf (1992). Franz Kafka: Die Verwandlung. Frankfurt a. M.:. Diesterweg.
    • Beicken, Peter U. (1974). Franz Kafka. Eine kritische Einführung in die Forschung. Frankfurt a. M.: Fischer Athenäum.
    • Beicken, Peter (1983). Franz Kafka: Die Verwandlung. Erläuterungen und Dokumente. Stuttgart: Reclam. ISBN 3-15-008155-6
    • Brunner Ungricht, Gabriela (1998). Die Verwandlung. In (283-295): Die Mensch-Tier-Verwandlung. Eine Motivgeschichte unter  besonderer Berücksichtigung des deutschen Märchens in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Bern: Lang.
    • Große, Wilhelm (2004). Franz Kafka: Die Verwandlung. Lektüreschlüssel. Stuttgart: Reclam. ISBN 3-15-015342-5.
    • Janouch, Gustav (1968). Gespräche mit Kafka. Frankfurt: Fischer.
    • Krischel, Volker (2006). Franz Kafka: Die Verwandlung. Königs Erläuterungen und Materialien (Bd. 432). Hollfeld: Bange. ISBN 978-3-8044-1818-9,
    • Nabokov, Vladimir (1986). Kommentar zu Franz Kafkas „Die Verwandlung“. Frankfurt: Fischer.
    • Schubiger, Jürg (1969). Franz Kafka. Die Verwandlung. Eine Interpretation. Zürich: Atlantis.
    • Urban, Cerstin  (2005). Franz Kafka: Erzählungen I. Königs Erläuterungen und Materialien (Bd. 279). Hollfeld: Bange. ISBN 978-3-8044-1726-7.
    Historischer Rahmen, Kultur und Zeitgeist
    • Schmitz, Walter (2001). Tripolis Praga. Die Prager Moderne um 1900, Katalogbuch. Thelem: Universitätsverlag. ISBN-10: 3933592917. ISBN-13: 978-3933592910




    Links (Auswahl: beachte)
        Entlinkung bei solchen, deren URL verändert und keine Weiterleitung eingerichtet wurde.
    • Biographisches: [ ,1,2,3,W, ]
    • Brief an den Vater [GP]
    • Die Verwandlung [ , Online: , Gutenberg, Zeno, ]
    • Kafka Uni Bonn.
    • Kafka Museum Prag. [1, 2, 3,]
    • Franz Kafkas Prag. [Kafka in Prag, Wohnungen der Eltern, Kafkas Domizile, Geschäft des Vaters, Ausbildung und Arbeit, Das Prager Judenviertel, Prag um 1900, Prag in der Literatur] [Tripolis Praga: 1,2,3, alle wegen 404 Problem entlinkt]
    • Kafka S. Fischer Verlag.
    • Deutungsversuche der Verwandlung: [ ,1, 2, 3, alle bis auf  W  wegen 404 Problem entlinkt ]


    Galerie Die Verwandlung: [1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 11, alle wegen 404 Problem entlinkt]
    Galerie Käfer [alle wegen 404 entlinkt; W, ] > Käfer-Symbolik.

      Aber: Schubiger (1969, S. 56) teilt mit, dass Kafka am 25.10.1915 in einem Brief an seinen Verleger sich eine Illustration ausdrücklich verbittet und schrieb: "Das Insekt selbst kann nicht gezeichnet werden". Er wollte also die freie Phantasie für die jeweilige Situation nicht einengen. Das macht insofern Sinn, weil es in der Erzählung selbst widersprüchliche Mitteilungen zu den körperlichen Leistungen bei den Bewegungsabläufen des Käfers gibt, so dass man ihn manchmal als klein annehmen muss, um der Erzählung zu folgen. Andererseits wird er als surrealer Riesenkäfer eingeführt, der die ganze Brust überdeckt.
    Galerie Franz Kafka [ 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, alle wegen 404 Problem entlinkt]
    Galerie Kafkas Prag [1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, alle bis auf  W wegen 404 Problem entlinkt]
    Galerie Metamorphosen [, W,]
     



    Glossar, Anmerkungen und Endnoten:
    GIPT = General and Integrative Psychotherapy, internationale Bezeichnung für Allgemeine und Integrative Psychotherapie.
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    Bürgerliche Lebensformen * Deutsche Literatur in Prag um 1900 * Eindrücke * Entstanden * Erlanger Nachrichten * Familie Samsa bei der Familientherapie * Folie à deux * Garage * Information Theater Erlangen * Käfer-Symbolik * Kafka-Fans * Metamorphose, Natur- und Kulturgeschichte zum Thema Verwandlung * Prag um 1900 * PsychoanalytikerInnen * Schubiger * semantisch, Semantik * Wenn er uns verstünde * werkorientierte Interpretation *
    ___
    Bürgerliche Lebensformen.
    Die soziologische Einordnung der Familie Samsa erschien uns nicht ganz einfach. Wie passt etwa zur gelegentlich zu lesenden Charakterisierung "kleinbürgerlich" das durchgängig beschäftigte Dienstpersonal, obwohl ja Vater, Mutter und Tochter daheim sind? Angaben zu den Lebensformen der Menschen im Prag um 1900 konnten wir leider nichts finden.
    • Bourgeoisie.  [,W,]
    • Bürger. [,W,]
    • Großbürger.  [,W,]
    • Kleinbürger. Meist abschätzig verwendete Formulierung von Menschen, deren "Horizont" für eng und klein gehalten wird, was an sich nicht unbedingt vorhaltfähig ist. Problemtisch wird ein solcherart enger und kleiner Horizont, wenn er zum Maßstab für Gott und die Welt erhoben wird. Das gilt dann über natürlich nicht nur für die im wörtlichen Sinne kleinbürgerliche Haltung, sondern für jede, die keinen anderen Horizont neben sich gelten lässt. [,W,]
    • Spießbürger. [ DIE ZEIT, IP-GIPT , Spiegel, Stern, W,]
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    Deutsche Literatur in Prag um 1900: ""Die Stadt Prag gehört – mit Berlin, München und Wien – zu den wichtigsten Schauplätzen der deutschen, literarischen Moderne. Doch anders als diese, mit deren literarischer Kultur sie im regen Austausch stand, war die „Schwellenstadt“ Prag zugleich durch eine interkulturelle Zwischenstellung zwischen deutscher, tschechischer und jüdischer Kultur geprägt; sie wurde zum europäischen melting-pot, in dem sich „eine immerwährende Mischung von Elementen vollzieht“ (Alfons Paquet, 1917). Gerade dies nun machte Prag, wie es Anton Kuh 1921 formulierte, zur „meteorologischen Versuchsstation für deutsche Kunst und Literatur“. Entsprechend vielstimmig und reichhaltig waren ihre literarischen Modernitäts-Projekte: Sie sind nicht nur durch große Namen wie Rainer Maria Rilke, Franz Kafka, Franz Werfel und Egon Erwin Kisch bestimmbar, sondern auch durch literarische Gruppierungen wie die Neuromantiker um Gustav Meyrink und Paul Leppin, die Prag den Namen „Stadt der Sonderlinge und Phantasten“ (Oskar Wiener, 1919) einbrachten; durch den sogenannten Prager Kreis (um Max Brod und Kafka), die Prager Expressionisten (z.B. Werfel, Paul Kornfeld) und nicht zuletzt auch durch die erste Phase des Exils zwischen 1933 und 1938, als Prag neben Paris zur wichtigsten Metropole der deutschen Exilliteratur wurde." Quelle: Deutsches Seminar der Eberhard Karls Universität Tübingen.
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    Eindrücke. Unsere "Eindrücke" von Theateraufführungen sind zwar an manchen Stellen gelegentlich kritisch, sind aber nicht als traditionelle Theaterkritiken misszuverstehen. Hierzu sind wir gar nicht ausgebildet und haben auch zu wenig Theaterkenntnis und -erfahrung. Wir können also die vielfältige Leistung von Dramaturgie, Regie, Musik, Bühnentechnik und Darstellung, besonders der SchauspielerInnen gar nicht angemessen bewerten. Und deshalb möchten wir uns auch mit Eindrücken begnügen. Wir verlangen vom Theater nicht mehr, als dass es Interesse weckt, berührt und zur Auseinandersetzung mit der Aufführung und dem ihm zugrundeliegenden Stück anregt.
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    Entstanden. Nach Schubiger (1969, S. 21), habe Kafka "Das Urteil" in der Nacht «in der Nacht vom 22. bis 23. von zehn Uhr abends bis sechs Uhr früh in einem Zug geschrieben»." [FN21 = Tagebücher, 23. September 1912, S. 293] und damit einen Durchbruch erzielt. Im Anschluss habe er sieben Kapitel zu "Amerika" und auch "Die Verwandlung",  insgesamt bis 6.12.1912 ca. 400 Seiten, geschrieben. Für die werkorientierte Interpretation ist aber bestenfalls die Jahreszahl wichtig, etwa zur Einschätzung der gesellschaftlichen Rolle der Familie Samsa.
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    Erlanger Nachrichten. Zur Premiere am 24.1.8 berichtet das Blatt (S.5) und beginnt sogleich mit einer krassen Interpretationsfehlleistung: "Gregor Samsa kann und will nicht mehr: Der Handlungsreisende empfindet seine Umwelt zunehmend als Bedrohung, Beruf und Leben geraten ihm zur belastenden Entfremdung. Er hat seine unreflektierte Existenz, sein Marionetten-Dasein satt - und verwandelt sich über Nacht in einen Käfer." Gregor verwandelt sich nicht selbst; er wird verwandelt, er findet seine Verwandlung vor, sie widerfährt ihm. Und er hat sein Dasein keineswegs satt, sondern ist mit seiner Rolle insgesamt unverständlich zufrieden.
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    Familie Samsa bei der Familientherapie
    Nehmen wir an, Familie Samsa hätte zu ihrer Zeit schon die Gelegenheit zu einer Familientherapie gehabt, und stellen wir uns vor, sie hätte sie nutzen wollen: wie hätte das ablaufen können?
        1. Sitzung: Vater (V), Mutter (M) und Schwester Grete (S) Samsa erscheinen beim Familientherapeuten, im folgenden FT genannt.
    Ein Zimmer mit 5 Sitzgelegenheiten, in der Mitte ist frei. Es gibt einen etwas größeren Sesselstuhl, eine kleinere Ausgabe davon, einen schwarzen und einen weißen Stuhl und einem Hocker, der ein bisschen abseits steht. FT hat einen eigenen markierten Sitz. Die vier Sitzgelegenheiten für die Familie sind in einer Art 2/3 Kreis angeordnet, so dass jeder mit jedem Sichtkontakt haben kann, der FT sitzt im freien Drittel. Die Schwester hat die Familie angemeldet und bei der Anmeldung höchste Dringlichkeit deutlich gemacht. Es sei etwas ganz Furchtbares geschehen und man brauche dringend und ganz schnell Hilfe. Sie gibt auf Frage bekannt, dass die Kernfamilie aus vier Mitgliedern bestehe. Daher werden für die erste Sitzung fünf Sitzgelegenheiten bereit gehalten.
        Nach kurzer förmlicher Vorstellung und Begrüssung beobachtet FT die Sitzwahl: Der Vater setzt sich in den grösseren Sesselstuhl, die Mutter in den kleineren und die Schwester nimmt auf dem weißen Stuhl Platz. Der schwarze Stuhl und der Hocker bleiben leer.
    Die Sitzung beginnt mit einem kurzen, die Familie irritierenden und schwer zu ertragenden Schweigen, weil sie nicht wissen, was nun zu tun ist. FT fühlt sogleich eine starke Spannung.

    FT (springt über seinen zurückhaltenden Schatten und sagt): Ihre Familie besteht aus vier Mitgliedern?
    Sie schauen sich an, vermutlich unsicher, wer etwas sagen soll.
    S:      (platzt heraus) Das ist ja unser Problem! Deshalb sind wir hier.
    FT:    Könnten Sie etwas mehr dazu sagen?
    S:      Hm. Es ist etwas ganz Furchtbares geschehen. Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll.
    FT:    Sagen Sie es einfach so, wie es für Sie ist. Sie können hier nichts falsch machen.
    M:     schluchzt, schnauft hörbar.
    V:      rollt verhalten mit den Augen, sieht zum Fenster hinaus, stöhnt leicht.
    S:      Gregor, mein Bruder, ... [verstummt]
    FT:    Was ist mit ihm?
    S:      Wie sag ichs bloß, damit Sie uns nicht für verrückt halten?
    FT:    Sagen Sie es einfach, Sie können wirklich nichts falsch machen.
    S:      (ermutigt, überwindet sich): Gregor, mein älterer Bruder hat sich über Nacht in einen Käfer verwandelt!
    FT:    (FT denkt: Hoppla, das habe ich ja noch nie gehört. Folie à deux?)
             (Überlegt, wie er reagieren könnte und beschließt, erst mal nichts zu sagen und abzuwarten)

    Die Familie ist irritiert und weiß nicht wie sie sich verhalten sollen. In allen drei Köpfen geht der Gedanke um, warum sagt denn FT nichts?  Schweigen.

    FT:   (nach zwei Minuten): Ein Käfer?
    S:     (bekräftigend, heftig) Ja, ein Käfer, über Nacht, plötzlich war er ein Käfer. Können Sie sich vorstellen, was mit uns los ist?
    FT:   (erstaunt, ratlos, zweifelnd, irritiert; beschliesst aber, sich erstmal auf die Käfergeschichte einzulassen und mitzuspielen und sagt:)
            Natürlich.
    M:    (schluchzt und weint)
    V:    (leicht aggressiv) Da bin ich aber gespannt.
    M:    (schneuzt sich, atmet leichter, das Weinen versiegt)
    FT   (zum Vater, die Geschichte so erst mal annehmend und auf ihn eingehend). Ich denke, Sie sind außer sich und ratlos.
    V:    Genau. Deshalb sind wir hier. Damit Sie uns helfen!
    S:    Was sollen wir bloß machen?
    M:   (schluchzt erneut tief röchelartig)
    FT:  An was haben Sie denn schon gedacht? (als er es sagt, kommt ihm, dass diese Gegenfrage wohl nicht so gut war, aber sie hat seinen Mund schon verlassen)
    V:    Wir dachten zuerst an einen Arzt, schickten den aber wieder weg als er kam.
    FT:  Hm. (denkt: nicht schlecht und fragt sich in einem ersten spontanen Geistesblitz: Warum haben sie ihn dann wieder weggeschickt? )

    Schweigen.

    FT   (zur Schwester) Arzt. Hm. Vielleicht gar keine schlechte Idee ... oder ... ?
    S:    Mein Kopf war leer. Ich konnte gar keinen klaren Gedanken fassen.
    M:   (schnauft)
    FT:  Wann ist denn das passiert?
    V:   Vorgestern. Gregor stand nicht auf und wir alle haben uns gewundert, weil das noch nie vorkam.
    ....
    ....
    ....
    Am Ende der ersten Sitzung bittet FT die Familie, ihm einen Hausbesuch zu gestatten.

    ___
    Folie à deux. Nach Peters (1984): Folie à deux (f). (C. LASÈGUE, J. FALRET, 1873,1877). Übernahme wahnhafter Überzeugungen eines Geisteskranken durch eine andere (geistesgesunde oder geisteskranke) Person (Ehefrau, Verwandte, Anhänger). Auch Bez. für alle vergesellschaftet auftretenden Geistesstörungen psychotischer oder nichtpsychotischer Art (> Wahn, konformer). Durch Ausweitung auf größere Gruppen von Menschen können »psychische >Epidemien« entstehen (> induziertes Irresein). Die häufig gebrauchte Bez. ist im Unterschied zur symbiontischen Psychose (s. d.) weiter und umfaßt auch familiär auftretende Psychosen, bei denen die Psychosen der Partner sich nicht miteinander verflechten. fr: délire à deux, contagion mentale; e: folie à deux, double insanity. Syn.: Folie simultané; infektiöses Irresein (IDELER, 1838); Contagio psychica (HOFBAUER, 1846).
        Peters, Uwe Henrik (1984). Lexikon Psychiatrie, Psychotherapie, Medizinische Psychologie Mit einem englisch-deutschen Wörterbuch als Anhang. München: Urban & Schwarzenberg.
    ___
    Garage. "Ehemalige Kutschenremise des markgräflichen Schlosses und Feuerwehrgarage. 1975 aus der Studententheaterbewegung heraus als Theater in der Garage eröffnet. 1989 umfangreiche Modernisierung. Heute Studiobühne des Theater Erlangen mit intimer Atmosphäre und angeschlossenem Theatercafé (geöffnet tägl. 18.00 bis 1.00, außer Montag). "
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    generalisierte Deutungen und Interpretationen sind gefährlich und gehen fast immer über das Werk, das oft - wie auch hier - einen "Einzelfall" behandelt, hinaus. Logisch betrachtet erfolgt bei generalisierten Deutungen ein durch das Werk selbst nicht gedeckter Sprung von n=1 auf alle oder jeder.
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    Information Theater Erlangen [PDF-Material].
    Die Verwandlung  von Franz Kafka in der Garage. Regie Denise Carla Haas
    „Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt.“ – Derart lapidar hebt Kafkas Erzählung Die Verwandlung an, in der – im Sinnbild der Metamorphose zum Käfer – von dem Protest des Protagonisten Samsa gegen seine entwürdigende Existenz als Handlungsreisender, als Marionette seiner Umwelt, erzählt wird. Die Reaktionen der Familie und seines Chefs auf diese Verwandlung zeugen von der Intoleranz und dem Unterdrückungswillen gegenüber einer Existenz, die die ihm zugeschriebene Rolle nicht mehr einnehmen will. Die Ereignisse entwickeln sich umso absurder, als die Familie gerade durch ihre Feindschaft zum verwandelten Sohn zu neuer Blüte gelangt und aus seinem Untergang ihren Aufstieg vollzieht. Die Verwandlung schildert den ‚Tod eines Handlungsreisenden’ in grotesken, traumhaften Bildern, deren Realitätscharakter gleichsam durch Kafkas sachliche, präzise Sprache immer konkret bleibt.
        Kaum ein anderer literarischer Text der Moderne hat die Nachwelt beschäftigt wie dieser. Doch neben all der akademischen Deutungswut, die zu einer Bibliothek von Interpretationen geführt hat, lohnt sich das theatrale Experiment auf der Bühne. Denn im Zentrum steht die Verwandlung: gewollt, unbewusst – oder von außen erzwungen. Im Labor seiner Texte führt uns Kafka den modernen Menschen vor, seine existentiellen Nöte, seine Bewusstseinslagen.
        Die Schweizer Regisseurin und Autorin Denise Carla Haas, die seit Jahren eine vielbeachtete Theaterkompagnie, das Le Théâtre L, in Lausanne unterhält, hat sich in der Vergangenheit immer wieder mit Texten der klassischen literarischen Moderne – u. a. von Beckett und Kafka – in ihren Inszenierungen auseinandergesetzt."
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    Käfer-Symbolik. Die Erzählung beginnt mit den Worten: "Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt." Die Schwester nennt ihn zum Schluss ein "Untier". Werkorientiert interpretiert ergibt sich, dass dieser braune Käfer riesengroß und daher als surrealer Käfer betrachtet werden muss. Er mag altes Essen, hinterlässt eine Kriechspur - die er nicht zum Schreiben verwendet - und stinkt. Die Reaktion der Familienmitglieder ist meist Angst, Ekel und Entsetzen. Weitergehende Interpretationen sind rein spekulativ. Obwohl er so groß ist und mindestens 8 Beine haben sollte, wird er sehr langsam geschildert. Das ist einer der offenen Widersprüche in der Verwandlung. Schubiger teilt übrigens mit, dass Kafka sich verbeten habe, dass bei der Veröffentlichung der Erzählung eine Darstellung des Käfers beigegeben wird. Er wollte wohl das freie Spiel der Phantasie durch eine konkretistische Darstellung nicht behindern.
        Im Kafka-Projekt der Uni-Bonn wird auf die Symbolfrage eingegangen und es wird dort ausgeführt [Q]: "Der Käfer ist eine beliebte Tiergestalt von Elben, Maren, Kobolden, Hexen und Teufeln. Aber auch Prinzessinnen und Prinzen wurden in Gold - oder Maikäfer verwandelt (Lexikon des dt. Aberglaubens, Bd. IV, S. 907f.). Besondere Bedeutung hat der Mistkäfer. Er lebt von Unrat und formt aus Mist kleine Kugeln, die er in die Erde versenkt und in denen das Weibchen seine Eier legt. In der altägyptischen Kultur galt er als Symbol der Auferstehung und wurde zur Abwehr von Unheil und bösen Kräften als Amulett getragen oder Toten beigegeben (Skarabäus) (Herder Lexikon, S. 154f.).
        Das mag zwar alles sein, steht aber außerhalb des Werkes. Und außerdem ergäben diese Bezüge keinen echten Sinn, denn Kafka stand Ägypten nicht nahe, er war schließlich deutschsprachiger Tscheche und Jude in Prag (damals - seit Maria Theresia - unter Österreich-Ungarischer Kolonialherrschaft). Zur Zeit der Niederschrift 1912 war er 29, mit 41 starb er an Tbc. In der Verwandlung fanden wir außer der Beschreibung der drei Herren, die auf S. 39 zur Untermiete einziehen, nichts Jüdisches. Im Jüdischen Lexikon, das Kafka sehr interessenmotiviert und sehr fragwürdig metaphysisch interpretiert, findet sich weder ein Eintrag zum "Käfer" noch zum "Skarabäus". Zum Streit Schoeps / Brod > Hohmann.
    ___
    Kafka-Fans. Ein Motiv - neben dem Aufsuchen des Originalschauplatzes der interessanten tschechischen Tradition unliebsame Politiker aus dem Fenster zu werfen (Prager Fensterstürze) - für eine unsere letzten Reisen nach Prag, war u.a. das Kafka-Museum, in dem man z.B. den handschriftlichen Originalbrief Kafkas an seinen Vater lesen kann - was wir uns natürlich nicht nehmen liessen.
    ___
    Kunstinterpretation und Kunst-Kritik

      Wollen uns KünstlerInnen etwas sagen und wie ist zu ergründen, was sie uns sagen wollen? Mit dieser Frage wurden und werden Milliarden von SchülerInnen und StudentInnen - seit es entsprechende Bildungseinrichtungen gibt - konfrontiert. Die Wahrheit dürfte nicht selten sein: es gibt vermutlich ebenso viele Deutungsmöglichkeiten für ein Werk wie es Erfassende gibt, die allesamt ihre individuelle Bildungs- und Persönlichkeitsgeschichte mitbringen. Ob Werkschaffende oder KunstproduzentInnen immer wissen, was sie sagen wollen, ist nicht minder zweifelhaft. Manche wollen vielleicht auch gar nichts sagen. Andere können es nicht oder sagen etwas (teilweise) Falsches. Nicht selten geben Künstler - wie ihre Kritiker - Unsinn von sich (z.B. in der Reihe 100(0)  Meisterwerke oder hier). Nicht wenige KünstlerInnen schaffen einfach, geben sich ihren Fantasien und Gestaltungen hin. Jedes Werk, könnte man vermuten, wirkt nach seiner Schaffung weitgehend unabhängig von seiner SchöpferIn. Etwas bildungspathetisch formuliert: es wirkt durch sich. Aber durch sich wirkt bei genauer Betrachtung gar nichts. Es sind immer zwei, die einen Eindruck konstituieren: das Werk und seine ErfasserIn (Reiz und Reaktion). Die Interpretation ist vielleicht selbst eine  individuelle Schöpfung. Und wie etwas auf eine Erfassende wirkt, kann nur die Erfassende selbst wissen und sagen, wobei auch hier viele nichtbewusste, kaum in Worten fassbare Faktoren mitspielen. Bei genauer Betrachtung haben wir also sowohl auf der Schöpfer- als auch auf der Erfasserseite viele subjektive, teils nicht bewusste, teils gar nicht angemessen in Worte fassbare Momente. Was ist dann aber ein Kunstwerk? Was ist eine angemessene Interpretation?  Gibt es keine objektiven Kriterien? Die Antwort ist ein klares Jein. Eine allgemein akzeptable Regel könnte lauten: Wenn eine Schöpfung anregt, berührt, bewegt, dann hat sie einen wichtigen Zweck erfüllt.

      5 Faktoren-Modell zur Psychologie der Werk-Wirkungen


       
      • Querverweise: Wertfunktion Kunst, Definition der Kunst, Wovon hängt das sinnlich-geistige Werterleben bei der Kunstbetrachtung ab?
      • Interessant und verallgemeinerungsfähig auch Prinzhorn: Die psychologischen Grundlagen der bildnerischen Gestaltung.
      • Die Sprache der Kunst ist analog, symbolisch, "rechtshemisphärisch": Allgemeine und Integrative Symboltheorie, Einführung.
      • Einführung: Literatur und Kunst - Psychologie und Psychotherapie.
      • Absurdität, Antinomie, Aporie, Konfusion, Paradoxie, Pseudo-Paradoxie, Sophisma, Widerspruch, X-Strittiges/Sonstiges.
      • Dali: Unabhängigkeitserklärung der Phantasie und Erklärung der Rechte des Menschen auf seine Verrücktheit
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      Interpretation des (vermeintlich) Irrationalen, Surrealen, Absurden und Unfassbaren
      Hier muss zunächst unterschieden werden, ob es (1) um die Interpretation der Schöpfungsgeschichte eines so erlebten Werkes geht, wie es also zustande kommt, wie man seine Entstehung verstehen kann. Oder (2) kann der  subjektive Faktor der Wirkung gefragt sein, also warum das Werk auf den Erfassenden so wirkt. Werke können so und so interpretiert werden und das mag sich für verschiedene Interpretierende auch ganz unterschiedlich darstellen. Leichter wird es im allgemeinen, wenn man spezifische Fragen zu spezifischen Werkinhalten stellt, um sich nicht im Allgemeinen und damit meist Nebelhaften zu verlieren. Ein Werk ist ein Werk, so wie es gemacht ist und vorliegt. Das Werk selbst ist ein Objekt der Realität. Ihm kann so gesehen gar nichts Irrationales, Surreales, Absurdes oder Unfassbares anhaften. Diese Wirkung kommt erst mit den Erfassenden ins Spiel, die sich der Interaktion der Wirkung aussetzen. Die Charakterisierung Irrationales, Surreales, Absurdes oder Unfassbares ist in der Hauptsache ein Akt der Erfassenden, womit sie ihr Wirklichkeitsverständnis zum Ausdruck bringen.
      Kafkas Schöpfungen
      Viele KünstlerInnen wissen nicht, wie sie zu ihren Einfällen kommen: sie finden sie vor und gestalten sie. Bei kommen kommt ein innerer Drang zum Ausdruck zu: Gestaltung als eine Art Katharsis oder "Therapie". So scheint es bei Kafka gewesen zu sein, wie einerm Zitat von Wagenbach (1964. S. 95, fett-kursiv I-RS) entnommen werden kann: "Entlobung, Kriegsausbruch und Distanz zum Elternhaus gaben Kafka endlich die ersehnt-gefürchtete Einsamkeit. Einige Tage später vermerkt er im Tagebuch: Der Sinn für die Darstellung meines traumhaften innern Lebens hat alles andere ins Nebensächliche gerückt und es ist in einer schrecklichen Weise verkümmert und hört nicht auf zu verkümmern. Nichts anderes kann mich jemals zufriedenstellen ...."
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    Metamorphose, Natur- und Kulturgeschichte zum Thema Verwandlung [ > Brunner Ungricht, W,] .
     
    (1) Das Sujet (Thema) der Verwandlung ist uralt und spielt bereits in der mythologisch-religiösen Geschichte eine wichtige Rolle: sich beliebig verwandeln zu können war ein Attribut der Götter. Kosmische Formationen wie Sterne, der Himmel oder die Wolken, Blitz und Donner werden zu Göttern, diese zu Menschen; Menschen zu Tieren (Der goldene Esel [1, 2]; Froschkönig; Brüderchen und Schwesterchen; Sapi:= tags schöner Jüngling, nachts Schwein), Pflanzen (Daphne) oder in einen Gegenstand, z.B. einem Stein, Hügel oder Felsen ( arumba arumba:= Doppelgeister Ahnensteine; tukutita). Eine große Rolle spielten Verwandlungen schon immer im Märchen, aber auch in der Religion, z.B. bei einigen Wundern (Speisung der 5000) oder fundamentalistisch z.B. in der katholischen Eucharistie, die Hostie soll sich in den Leib Christi und der Wein in sein Blut wandeln. Wenn Janouch also stolz zu Kafka fährt, um ihm zu verkünden, dass seine Verwandlung inzwischen schon abgeschrieben werde - David Garnett "Lady into Fox" - und Kafka entgegnet: "Ach Nein! Das hat er nicht von mir. Das liegt in der Zeit. Wir haben es beide von ihr abgeschrieben." (Janouch 1968, S. 43), so liegen beide falsch: Verwandlungen haben eine lange Tradition in der Kultur-, Geistes- und Kunstgeschichte. Aber sie kamen in der "Moderne" um 1900 aus der literarischen Mode.

         Lit:  Stichwort Verwandlung. In: Bächthold-Stäubli, Hanns & Hoff- mann-Krayer, Eduard (1927-1942; Neuauflage 2000). Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. 10 Bde. Berlin: deGruyter.

    "Von der Lust am Untergang" RS 1975, rechter Flügel 
    aus dem Schinderhannes Triptychon.
    (2) Eine ganze andere, natürliche und reale Quelle finden wir in der Biologie in der Entwicklung der Geschöpfe und Lebewesen (z.B. Larve, Puppe, Schmetterling; Ei, Befruchtung, Embryo, Geburt, Entwicklung).
    (3) Eine dritte Quelle findet sich in der Psychopathologie, wenn Menschen ihr Wesen verändern bis hin zu multiplen Persönlichkeiten oder "gespaltenen" Persönlichkeiten in der Schizophrenie oder, wenn sie durch Demenz (Alzheimer) oder andere krankhafte Veränderungen allmählich ihre Identität verlieren und nicht mehr wissen, wer sie sind oder auch krankheitsbedingt die Sprechfähigkeit verlieren (z. B. nach einem Schlaganfall) und sich vielleicht ähnlich fühlen wie Gregor). Hierzu gehören evtl. auch die Saulus-Paulus-Phänomene, wenn Menschen in ihrer Lebenshaltung einen radikalen, extremen Wandel durchlaufen.
         Back, Frances (2002). Verwandlung durch Offenbarung bei Paulus. Eine religionsgeschichtlich-exegetische Untersuchung zu 2 Kor 2,14 - 4,6. Tübingen: Mohr Siebeck. ISBN  3-16-147880-0. 
    (4) Entwicklungspsychologie: der Mensch wandelt sich im Laufe des Lebens, wenn er auch seine Identität behält. 
    (5) Alltag: Wetter, Klima, Tag und Nacht, Jahreszeiten; Umbauten, äußere Erscheinung (Mode).
    (6) Metamorphose ist auch ein großes Thema der Geologie.
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    Prag um 1900. Zum Prag um 1900 gab es eine Ausstellung - Eröffnung am 18.5.2001 im Lichthof des Dresdner Rathauses - mit Buch und CD: "Tripolis Praga. Die Prager Moderne um 1900." Auf der Suche nach einer Antwort auf die Frage, wie die Familie Samsa, die wenig Geld hat, sich aber ein Dienstmädchen leistet, obwohl Vater, Mutter und Tochter daheim sind, soziologisch charakterisiert werden kann (kleinbürgerlich, bürgerlich, großbürgerlich) wird man in dem 402 Seiten starken Band  leider nicht fündig: über die Lebensweise der Leute erfährt man so gut wie gar nichts; die Kunst dreht sich, wie so oft, ganz um sich selbst.
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    PsychoanalytikerInnen. Bei Interpretationen durch PsychoanalytikerInnen muss man sehr vorsichtig sein, da diese völlig unbekümmert ihre phantastischen Ideen (Ödipus, Penisneid) in Gott und die Welt und so auch in Kafka und seine Werke hineinprojizieren, dass einem schlecht werden könnte.
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    Schauspieler und ihr Team. Claudia Bill (Dienstmädchen Anna), Tanya Häringer (Mutter), Gregor Henze (Prokurist / Zimmerherr), Peter Neutzling (Gregor), Jenifer Sabel (Grete), Winfried Wittkopp (Vater).  Regie: Denise Carla Haas. Ausstattung: Nedeljka Loncarevic. Dramaturgie: Sven Kleine. Licht: Mario Liesler. Ton: Jennifer Weeger. Regieassistenz: Astrid Gruber. Dramaturgieassistenz: Anna Gubiani
    Dramaturgiehospitanz: Antonia Bill. Einspielung Violine: Boguslaw Lewandowski
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    Schubiger (1969, S. 20) schreibt in seiner Monographie über Die Verwandlung im Abschnitt "Wege der Interpretation und Weisungen an mich selbst" einen sehr schönen Satz: "Dabei halte ich mich eng an den Wortlaut, denn er ist das einzig Zuverlässige." Das tut er aber weder in diesem Abschnitt noch vorher oder jemals nachher. Er verstösst ständig und damit vielfach gegen diese Weisung an sich selbst. Schon das Eingangszitat aus Briefe an Milena steht in direktem Widerspruch hierzu, wenngleich es sehr trefflich erscheint: "Es ist auch sehr schwer für Menschen, mit Gespenstern 'Fangen' zu spielen." Schubiger hat eine ausgezeichnete Interpretationshilfe vorgelegt und viele interessante Gedanken auf 110 Seiten zusammengetragen. Und er ist sicher ein großer Gebildeter im Hinblick auf Kafka und Die Verwandlung, aber er ist nicht in der Lage, sich die gebotene Zurückhaltung aufzuerlegen, die eine werkorientierte Interpretation zwingend erfordert: was sich nicht aus dem Text ergibt und belegen lässt, hat in einer werkorientierten Interpretation nichts verloren.
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    semantisch, Semantik. Die Lehre von der Bedeutung von Zeichen. Kommunikationswissenschaft und Linguistik verwenden in der Zeichentheorie die Unterscheidungen Syntax, Semantik und Pragmatik. Syntax: Das Wort "Musik" hat fünf Buchstaben. Es bedeutet zu einer Einheit zusammengefasster Klänge; metaphorisch, also im übertragenen Sinne "Musik in meinen Ohren" etwas Angenehmes. Und Pragmatik steht für die Nutzung: Musik wird von den Menschen genutzt, um Gefühle und Stimmungen zu erzeugen, zu vertiefen, anzuregen oder zu modulieren.
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    weder nötig noch förderlich: Es erscheint daher sehr problematisch, wenn das Theater Kafkas Brief an den Vater [GP] seinen Materialien [PDF-Material] zur Verwandlung beigibt. Einmal, weil es sachlich falsch ist, Gregor Samsas Vater mit Kafkas Vater zu identifizieren oder Kafkas Vatererfahrung zur Erschließung der Bedeutung der Verwandlung zu verwenden. Zum andern ist es nicht nur sehr schwierig, sondern auch sehr  fraglich, werkfremde Informationen zur Interpretation heranzuziehen. Da die Aussagen des Werkes selbst sehr klar sind, werden zusätzliche, werkfremde Interpretationshilfen gar nicht benötigt. Zu allen drei Fehlern werden die SchülerInnen aber angeregt.
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    Wenn er uns verstünde. "»Kind«, sagte der Vater mitleidig und mit auffallendem Verständnis, »was sollen wir aber tun?«
        Die Schwester zuckte nur die Achseln zum Zeichen der Ratlosigkeit, die sie nun während des Weinens im Gegensatz zu ihrer früheren Sicherheit ergriffen hatte.
        »Wenn er uns verstünde«, sagte der Vater halb fragend; die Schwester schüttelte aus dem Weinen heraus heftig die Hand zum Zeichen, daß daran nicht zu denken sei.
        »Wenn er uns verstünde«, wiederholte der Vater und nahm durch Schließen der Augen die Überzeugung der Schwester von der Unmöglichkeit dessen in sich auf, »dann wäre vielleicht ein Übereinkommen mit ihm möglich. Aber so-«
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    Werkorientierte Interpretation ist eine natürliche Idee, die sich viele KünstlerInnen auch wünschen, woran sich aber viele InterpretInnen nicht halten. Bei der werkorientierten Interpretation wird bewusst auf Rückgriffe auf andere Werke und die Biographie der KünstlerIn verzichtet.
        Jede Kritik ist eine Bewertung und verlangt daher, streng betrachtet, ein Bewertungsverfahren, das im allgemeinen aber unbekannt ist. So haftet der Kritik nicht selten etwas Willkürlich-Zufälliges und Subjektiv-Persönliches an. Daher besteht seit jeher ein spannungsvolles Verhältnis zwischen  KünstlerIn und KritikerIn. Häufig spielen auch ganz profane - wenn auch selten zugegebene - Fragen eine Rolle: wie viel Platz steht für die Kritik zur Verfügung, wie schnell muss sie geschrieben sein, wie hoch ist das Honorar, was erwartet der Finanzier, die Redaktion, die LeserIn? Ist die KünstlerIn berühmt, hat sie Einfluss? Versteht, schätzt oder mag man sie?
        Die von uns bevorzugten 4 Grundsätze und Regeln werkorientierter Interpretation sind:  (1) Inhaltsangabe, Hintergrund, Zeit- und Rahmenbedingungen und Verlauf der Handlung. (2) Leitmotive und Hauptthemen des Werkes. (3) Ausdrucksmittel: Sprache, Stil, Erwähnen und weg lassen, Dramaturgie und Spannung. (4) Besondere Analyse spezieller Themen; hier: Die Persönlichkeiten, Charaktere und das Familiensystem. (5) Werkorientierte Wirkung und Interpretation der LeserInnen (Hierzu bringt W ein interessantes Zitat von Marcel Proust: "„In Wirklichkeit ist jeder Leser, wenn er liest, ein Leser nur seiner selbst. Das Werk des Schriftstellers ist dabei lediglich eine Art von optischem Instrument, das der Autor dem Leser reicht, damit er erkennen möge, was er in sich selbst vielleicht sonst nicht hätte erschauen können. Dass der Leser das, was das Buch aussagt, in sich selber erkennt, ist der Beweis für die Wahrheit eben dieses Buches und umgekehrt.“  – Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit 7: Die wiedergefundene Zeit".)
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    Querverweise
    Standort: Kafka Die Verwandlung.
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    Eindrücke von Kafkas Der Prozess im Markgrafentheater Erlangen.
    Überblick Kunst, Ästhetik, Psychologie und Psychopathologie der Kunst in der IP-GIPT.
    Eindrücke von Theaterstücken.
    Literatur- und Link- Liste zu den Seiten: Kunst, Ästhetik, Psychologie und Psychopathologie der Kunst.
      *  Shakespeare: Hamlet, Richard III. * Brecht: Sezuan * Horváth: Kasimir & Karoline * Strindberg: Der Vater * Bochert: Credits * Rehberg: Wölfe * Ibsen: Gynt *
    *
    Suchen in der IP-GIPT, z.B. mit Hilfe von "google": <suchbegriff> site:www.sgipt.org
    z.B. Theater site:www.sgipt.org.
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    Dienstleistungs-Info.
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    Zitierung
    Rathsmann-Sponsel, Irmgard & Sponsel, Rudolf (DAS). Franz Kafka: Die Verwandlung. Analyse und werkorientierte Interpretation der Erzählung nebst Eindrücken aus der Erlanger Inszenierung in der Garage. Mit einem Exkurs Familie Samsa bei der 1. Sitzung einer Familientherapie. Aus unserer Abteilung Kunst, Ästhetik, Psychologie der Kunst, Bereich Theater. IP-GIPT. Erlangen: https://www.sgipt.org/kunst/theater/KafkaDV.htm
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    korrigiert: irs 27.01.08



    Änderungen wird gelegentlich überarbeitet, ergänzt und vertieft * Anregungen und Kritik willkommen
    03.06.18    Links wegen 404 entfernt.
    06.12.16    5 Faktoren-Modell zur Psychologie der Werk-Wirkungen, Verbesserung des alten 4er-Modells.
    01.04.15    Restlinkfehler.
    02.03.15    Linkfehler geprüft und korrigiert bzw. entlinkt.
    02.03.13    Kunstinterpretation und Kunst-Kritik.
    01.02.08    Link Brief an den Vater [GP]
    31.01.08    Relativierender und problematisierender Einschub "generalisiert".