Internet Publikation für Allgemeine und Integrative Psychotherapie
    (ISSN 1430-6972)
    IP-GIPT DAS=06.01.1998 Internet-Erstausgabe, letzte Änderung: 01.03.19
    Impressum: Diplom-PsychologInnen Irmgard Rathsmann-Sponsel und Dr. phil. Rudolf Sponsel
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    Willkommen in unserer Internet-Publikation für Allgemeine und integrative Psychotherapie (IP-GIPT), Abteilung Biographien, Bereich Geistesgeschichte, und hier speziell zu:

    Kurzbiographie Karl Philipp Moritz  1756- 1793

    "Magazin für Erfahrungsseelenkunde"      Überblick Geschichte

     
    Bildnis Karl Philipp Moritz 1756-1793 Karl Philipp MORITZ, geboren am 15.9.1756 in Hameln, stammt aus ärmlichen, streng pietistischen und zerrütteten Familien-Verhältnissen. 1763 Hannover. 1768 Hutmacherlehrling in Braunschweig. Abbruch 1770 zurück nach Hannover. 1771 durch Freitische und Förderung seinen Konfirmationspfarrers Besuch des Gymnasiums. Ab 1774 in Prima. 1776 verlässt er heimlich die Stadt, um Schauspieler zu werden, was scheitert. Ab 1777 studierte er Theologie in Erfurt und Wittenberg und wurde von Basedow nach Dessau gerufen; verschiedene Lehrtätigkeiten an Gymnasien, 1786 zwei Jahre Italien, dort Bekanntschaft mit Goethe und von diesem stark beeinflußt. 1789 Professor für Altertumskunde in Berlin. 
        Lebensphilosoph und Ästhetiker ("Über die  Bildende Nachahmung des Schönen"), Reiseliteratur (England, Italien). 4-teiliger  autobiographischer psychologischer Roman: Anton Reiser. Herausgabe des 10-bändigen Werkes "Magazin für Erfahrungsseelenkunde" 1783 - 1793, empirisch orientierte Psychopathologie, ein Ausdruck Moritzens mit viel Beschreibung und Kasuistik. 
        Von großer Bedeutung für die Geschichte der klinischen Psychologie, Psychopathologie, Kasuistik und Psychotherapie ist das 10-bändige von ihm herausgegebene Werk "Magazin für Erfahrungsseelenkunde". Zurecht berufen sich sowohl die Psychologie, Psychiatrie und Psychotherapie auf dieses einzigartige historische Dokument, das von Franz Greno aus Nördlingen 1986 bibliophil nachgedruckt wurde.

    Der - unvollendete - Roman "Anton Reiser" gilt als einer der ersten großen psychologischen (Entwicklungs-) Romane. Die vier Teile erschienen 1785, 1786 und 1790. Im Nachwort der Reclamausgabe führt Wolfgang Martens in seiner ausgezeichneten psychologischen Analyse aus (S. 550):
        "Moritz notiert zahlreiche Einzelheiten, an denen Bedrückung und Erniedrigung erfahren werden: die Kleidung im grauen Bediententuch, die wohlweisen Ermahnungsreden der freitischgebenden Frau Filter, die Bevorzugung von Mitschülern aus besseren Häusern, das Ausgeschlossensein vom Fackelzug aus Mangel an Mitteln. Anton Reiser ist ein Spiegel menschlicher Nöte, die durch niedrige Herkunft, durch geringen Stand bedingt sind. Heine spricht von der »Geschichte einiger hundert Taler, die der Verfasser nicht hatte, und wodurch sein ganzes Leben eine Reihe von Entbehrungen und Entsagungen wurde, während doch seine Wünsche nichts weniger als unbescheiden waren«. Mit einer bisher unbekannten Schärfe zeigt der Roman, in welchem Maße das Milieu, die soziale Situation einen Menschen in seiner Entwicklung behindern, seelisch verletzen und verklemmen kann.  Vom häuslichen Unfrieden über die Lehrlingsfron beim Hutmacher Lobenstein, die Demütigungen des armen Gymnasiasten bis zum Ausgeschlossensein von den Theateraufführungen der Primaner sind Reisers Leiden soziale Leiden. Die Ungleichheit der menschlichen >Glücksumstände< wird von ihm in unzähligen Einzelerfahrungen erlebt, und dies Erlebnis führt ihn bis zum grundsätzlichen Anstoß an der gegebenen Sozialordnung: »Im Grunde war es das Gefühl, der durch bürgerliche Verhältnisse unterdrückten Menschheit, das sich seiner [<550] hiebei bemächtigte, und ihm das Leben verhaßt machte — er mußte einen jungen Edelmann unterrichten, der ihn dafür bezahlte, und ihm nach geendigter Stunde auf eine höfliche Art die Türe weisen konnte, wenn es ihm beliebte - was hatte er vor seiner Geburt verbrochen, daß er nicht auch ein Mensch geworden war, um den sich eine Anzahl anderer Menschen bekümmern, und um ihn bemüht sein müssen — warum erhielt er gerade die Rolle des Arbeitenden und ein andrer des Bezahlenden?« (S. 366). Weiter freilich als bis zu dieser  Reflexion kommt Reiser nicht und kommt auch Moritz, der Verfasser, nicht. Die Gesellschaftskritik des Romans bleibt in der Regel immanent; der sozialen Ordnung, den Herrschaftsverhältnissen im Zeitalter des Absolutismus wird nicht mit Bewußtsein der Prozeß gemacht; der Gedanke an Gleichheit, an soziale Gerechtigkeit, an Aufhebung der Ständeordnung, an Revolution oder auch nur an Reformen keimt nicht auf - was übrigens dem Verhalten Moritz' etwa gegenüber der Französischen Revolution entspricht. Der Roman ist eine Dokumentation sozialen Leidens ohne ein Element Hoffnung.
        Das freilich hängt wiederum eng zusammen mit einer besonderen psychischen Disposition, mit der Reiser der gesellschaftlichen Wirklichkeit begegnet. Reiser erscheint als ganz außerordentlich dünnhäutig, reizbar, empfindlich und verletzlich. Sein Selbstgefühl ist von äußerster Labilität. Mangelndes  »Selbstzutrauen«  (dies Wort scheint übrigens eine Neuprägung Moritz' zu sein!), Gehemmtheit, Schüchternheit, Kontaktschwäche kennzeichnen Reisers Verhalten auf Schritt und Tritt. Nur so können auch kleinste Anstöße, geringfügige Zufälle, harmlose Begegnisse die schwersten Folgen für  Reisers inneres Gleichgewicht  haben. Nach Eybischs Feststellung sind etwa ein Drittel aller Mitschüler Moritz' in gleicher Weise wie er arme Schlucker gewesen, aber nur Reiser-Moritz scheint unter den Folgen der Armut bis zum Selbstverlust gelitten zu haben. Reiser ist in ungewöhnlicher, krankhafter Weise in seinem Selbstgefühl von allem Äußeren, von Umständen abhängig, wobei diese Umstände [<551] keineswegs immer in der Ständeordnung begründet oder ökonomischer Art zu sein brauchen; ein mißverstandenes Scherzwort kann ihn niederwerfen. Die Bedingtheit durch die Umstände,  durch die Verflechtung »einer unendlichen Menge von Kleinigkeiten« (S. 122), wird in mimosenhafter Sensibilität empfunden. Diese Bedingtheit bestimmt zugleich die Struktur des Berichtens, wenn der erste Satz des autobiographischen Romans mit Anton als Subjekt erst auf S. 12 erscheint, während alles Vorherige nur Schilderung der Umstände ist, unter denen Anton heranwachsen muß: die Umstände kommen zuerst; sie sind das Primäre! - Man hat den Anton Reiser eine Studie über den Minderwertigkeitskomplex hundert Jahre vor der Individualpsychologie nennen können (Minder). Er ist eine psychische Pathographie mit einer Fülle von für den Psychologen aufschlußreichen Befunden. Moritz selber übrigens verweist dabei, und das entspricht den Erkenntnissen der modernen Psychologie, auf die entscheidende Rolle der Kindheitserlebnisse Antons. Der Konflikt mit dem Vater, der Zwist der Eltern, die Bevorzugung der Geschwister provozieren die Gefühle der Minderwertigkeit. Das »zurücksetzende Betragen seiner eignen Eltern gegen ihn« wird für die »Seelenlähmung« verantwortlich gemacht, die noch den Jüngling »zum Spott der Welt gleichsam an der Stirne gebrandmarkt« sein läßt (S. 368). Mangel an Wärme, an Liebe, an Geborgenheit in frühester Jugend lassen ihn, so versteht es Moritz selber, zu krankhaften, neurotischen Reaktionen noch als Zwanzigjährigen kommen. Bezeichnend die selige Erinnerung an das seltene Erlebnis, da ihn seine Mutter einst bei Sturm und Regen in ihrem Mantel geborgen hielt (S. 37). Diese Geborgenheit ist Reiser sonst versagt. Er ist wie ein schutzloses Kind in einer liebeleeren Welt ohne ein Selbstwertgefühl den  Unbilden des Lebens - nicht nur  sozialer  Bedrückung im  engeren Sinne — ausgeliefert. ... .... ...."


    Querverweis:
    Anton Reiser Nach Karl Philipp Moritz in einer Bearbeitung von Mirja Biel / Joerg Zboralski. Eindrücke von der Inszenierung am 16.7.2012 im Theater Garage.



    Zitierung
    Sponsel, Rudolf (DAS). Internet Publikation  für Allgemeine und Integrative Psychotherapie  IP-GIPT. Kurzbiographie Karl Philipp Moritz  1756- 1793. Erlangen:https://www.sgipt.org/biogr/b_moritz.htm
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